Religionsfreiheit: Befreit aus der „Umklammerung der Macht“

Vermittlerin des Friedens sein: Gottesdienst zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Nigerianischen Lutherischen Kirche (LCCN). Foto: Felix Samari LCCN/LWB

LWB über den Bericht des Sonderberichterstatters des UN-Menschenrechtsrates

(LWI) – Wie schüren Kirchen Konflikte? Wie können sie als Vermittlerinnen für Frieden auftreten? Anlässlich des Berichts des Sonderberichterstatters für Religions- und Glaubensfreiheit während der 25. Sitzungsperiode des UN-Menschenrechtsrates veranstaltete der Lutherische Weltbund (LWB) ein Side-Event zum Thema Religions- und Glaubensfreiheit. In einem Interview mit der Lutherischen Welt-Information (LWI) spricht Ralston Deffenbaugh, Assistierender Generalsekretär des LWB für Internationale Angelegenheiten und Menschenrechte, über Regionen und Ursachen von religiösem Hass, die Rolle der Kirchen als Nervensystem und die schwierige Aufgabe, sich aus der „Umklammerung der Macht“ zu befreien.

In welchen Regionen sehen Sie derzeit Brennpunkte mit Blick auf Religions- und Glaubensfreiheit?

Eines der Länder, dem wir die meiste Beachtung schenken, ist Nigeria. Eine unserer Mitgliedskirchen befindet sich im Nordosten des Landes, wo es zu Übergriffen durch die Boko Haram-Milizen gekommen ist. Es gibt dort grosse Spannungen. Wie können diese Kirche und ihre Leitung eine treibende Kraft für Frieden sein und Menschen von Rache und Vergeltung abhalten? Wie können sie Beziehungen zwischen Gemeinschaften aufbauen? Das ist eine riesige Herausforderung.

Ein weiteres Land ist Indonesien. Die lutherischen Kirchen haben zwar viele Mitglieder, sind aber im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, die hauptsächlich muslimischen Glaubens ist, relativ klein. Wieder stellt sich die Frage, wie sie friedlich mit ihren Nächsten leben können, insbesondere jetzt, wo das Land durch viel mehr Migration gezeichnet ist und Christinnen und Christen in muslimische Gegenden gehen und Musliminnen und Muslime versuchen, in christliche Gegenden zu gehen? Wie können sie in einer Art zusammenleben, dass alle dieselben Rechte und Möglichkeiten haben?

Grund zur Sorge gibt auch die Lage in Indien. Wir haben dort relativ grosse lutherische Kirchen, deren Mitglieder grösstenteils Dalits sind, die sogenannten Unberührbaren. Sie leiden unter Diskriminierung aufgrund ihrer Kastenzugehörigkeit und teilweise ihrer Religion und die in der Mehrheit lebenden Hindus haben Vorurteile ihnen gegenüber. Wenn jemand Dalit und Hindu ist, steht ihm oder ihr eine gewisse Unterstützung zu, beispielsweise ein Stipendium oder sie wird bei der Arbeitssuche bevorzugt. Wenn aber ein hinduistischer Dalit zum Christentum konvertiert, verliert er oder sie diesen Anspruch. Es gibt also einen direkten Preis für die Religionsfreiheit des oder der Einzelnen, den die Regierung den Menschen auferlegt.

Und dann gibt es natürlich noch den Konflikt in der Zentralafrikanischen Republik. Das Land ist in einer chaotischen Situation. Mindestens ein Viertel der Bevölkerung – wenn nicht sogar mehr – musste ihr Zuhause verlassen. Es wurden viele ethnische/religiöse Gewalttaten begangen und ein Grossteil der muslimischen Bevölkerung in der Hauptstadt Bangui musste aus ihren Häusern flüchten. Die zentrale Frage ist, wie wir unsere dortige Mitgliedskirche beim ihrem Versuch unterstützen können, einen Dialog zu beginnen, so dass die Menschen ihren Hass überwinden.

Macht und Geld „im Gewand der Religion“

Sind Sie der Meinung, dass Religion allgemein der Grund für Konflikte ist?

Es ist schwierig einen Konflikt auszumachen, der ein rein religiöser Konflikt ist. Manchmal verwenden wir den Begriff „Konflikte im Gewand der Religion“. Für gewöhnlich gibt es andere Ursachen, die dem zugrunde liegen, wie Macht- oder Geldfragen oder das Schüren von Ängsten.

Wie kommt es, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften Konflikte schüren?

Die Mehrheit der Gläubigen strebt aufrichtig nach Liebe und Mitgefühl und will Gutes tun. Die meisten religiösen Menschen auf der Welt führen ein recht gutes Leben. Der Sonderberichterstatter Prof. Heiner Bielefeldt zitierte heute den Philosophen Friedrich Hegel, der sagte, dass „die Blätter des Glücks im Buch der Geschichte leer sind“. Aber Religion kann auch missbraucht und zu einer Kraft des Bösen gemacht werden.

Eine der Gefahren für Kirchen und andere religiöse Gruppen ist, dass sie es zulassen, mit einer bestimmten ethnischen oder politischen Gruppe oder Regierung identifiziert zu werden, und sich damit in eine „Umklammerung der Macht begeben“, wie Prof. Bielefeldt es ausdrückte. Für uns Lutheranerinnen und Lutheraner ist es sehr wichtig, dass die Kirche eine gesunde Beziehung zur Regierung hat. Wir können mit Regierungen zusammenarbeiten, wenn wir dieselben Interessen verfolgen. Wir müssen aber auch kritisch mit Regierungen umgehen können. Wenn wir in unserer Religion wirklich frei sein wollen, dann müssen wir uns vom dieser „Umklammerung der Macht“ befreien.

Die meisten Länder, die Sie genannt haben, haben Religionsfreiheit bereits schriftlich in Verfassung und Gesetzen verankert. Was fehlt?

Es kann Vorurteile oder sogar staatliche oder gesetzliche Verfolgung geben und es gibt gesellschaftliche Vorurteile. Es ist in erster Linie Aufgabe der Regierung, die hauptverantwortlich für die Sicherung der Menschenrechte ist, sich für Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung einzusetzen. Aber auch alle Mitglieder der Gesellschaft und insbesondere religiöse Führungspersonen haben die Verantwortung, sich für Religionsfreiheit auszusprechen. Religionsfreiheit ist nicht nur etwas, das einige wenige Minderheiten angeht. Es ist ein zentrales Menschenrecht. Fast alle Menschen gehören einer Religion an und wollen diese leben.

„Religiösen Hass“ erklären

In seinem Bericht hat sich der Sonderberichterstatter auf Erscheinungsformen von „kollektivem religiösem Hass“, auf das Auftreten von intensiven und irrationalen Feindseligkeiten und Anfeindungen gegenüber bestimmten Zielgruppen oder Individuen im Namen der Religion oder des Glaubens konzentriert. Was sind die Ursachen für dieses Auftreten?

Es gibt verschiedene Faktoren. Einer davon ist Korruption. Wenn in einem Land Korruption herrscht, können die Menschen untereinander und mit Behörden nicht auf einer Vertrauensbasis interagieren. Das führt oft dazu, dass sie sich in ihre Gemeinschaften – und das kann die Familie oder eine ethnische oder religiöse Gruppe sein – zurückziehen und sich über diese identifizieren. Daraus entwickeln sich Ängste vor „dem Anderen“, vor Menschen, die anders sind.

Ein weiterer Faktor ist politischer Autoritarismus. Wenn Menschen davon abgehalten werden, eine offene Debatte miteinander zu führen, wenn sie sich nicht sicher fühlen können, offen und frei über das zu reden, was sie stört und was sie verändern wollen, dann führt das zu Misstrauen und Argwohn innerhalb der Gesellschaft.

Ein dritter Faktor ist eine zu enge Identitätspolitik. Manche politischen Gruppen oder Regierungen wollen Religion für ihre politischen Zwecke nutzen, um die Unterstützung der mehrheitlichen religiösen Gruppe zu gewinnen, wenn sie die Minderheit diskriminieren.

Wie kann man diesen Faktoren, die zu religiöser Gewalt führen können, entgegenwirken?

Die Empfehlungen des Sonderberichterstatters an den Menschenrechtsrat kreisten um den Vertrauensaufbau in Gemeinschaften und Gesellschaften. Für uns im LWB geht es viel um die Beziehung zwischen christlichen und muslimischen Gläubigen. Der LWB ist der grösste glaubensbasierte Implementierungspartner des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR). Die meisten Flüchtlinge, mit denen wir arbeiten, sind muslimischen Glaubens. Ich denke, der Schlüssel zu allem ist, Respekt für den oder die Anderen zu haben. Das liegt uns Lutheranerinnen und Lutheranern sehr am Herzen. Wir wurden alle nach dem Bild Gottes geschaffen und sind alle gleich. Diese Sichtweise hilft sehr viel weiter. Wir stellen auch sicher, dass jede geleistete Unterstützung nicht diskriminierend ist, genauso wie der barmherzige Samariter in der Bibel. Er hat nicht nachgefragt, ob die Person berechtigt war. Er kontrollierte nicht die Religion des Verletzten oder wollte seine Papiere sehen. Er half einfach einem Menschen in Not.

Hoffnung aus Liberia

Worauf konzentriert sich die Advocacy-Arbeit des LWB zu Religions- und Glaubensfreiheit?

Wir versuchen über Situationen informiert zu sein, wo Religionsfreiheit bedroht ist. Wir versuchen, uns selber zu verstehen und unseren Mitgliedskirchen dabei zu helfen, einige Prinzipien der Religionsfreiheit zu verstehen, was eine Gesellschaft ausmacht, in der Religionsfreiheit herrscht, und was dieses Recht in Gefahr bringt. Man könnte sagen, dass es eine unserer Rollen ist eine Art Nervensystem im Körper Christi zu sein. Wie jedes gut funktionierende Nervensystem wollen wir den Schmerz spüren können, aber auch feiern, wenn etwas geklappt hat und dieses Gefühl in der Gemeinschaft teilen und einander helfen.

Wann hatten Sie Grund zum Feiern?

In Liberia, das einen langen und schlimmen Bürgerkrieg durchleben musste. Glücklicherweise war dieser nicht religiös bedingt. Eine der grösseren Gruppen, die halfen das Land zu befrieden, war eine interreligiöse Frauengruppe, die von der Friedensnobelpreisträgerin Leymah Gbowee geführt wurde. Gbowee ist Mitglied der Lutherischen Kirche in Liberia. Sie hat Frauen aus verschiedenen christlichen Kirchen und muslimischen Gemeinschaften zusammen gebracht. Unter dem Motto „Beten wir den Teufel zurück in die Hölle“ haben sie eine Protestkampagne gestartet, mit der sie erzwungen haben, dass die politischen Gruppen und die Warlords weiter verhandeln und ein Friedensabkommen vereinbaren. Dies war ein wunderbares Beispiel dafür, wie sich Menschen gemeinsam über religiöse Grenzen hinweg für Frieden einsetzen. Es haben sich natürlich auch einige der männlichen Religionsführer für Frieden engagiert, es gibt einen interreligiösen Rat in Liberia. Das war ein schönes Beispiel, wie Religion für Frieden arbeitet.