Religionen positionieren sich im öffentlichen Raum

Teilnehmende der christlich-muslimischen Konsultation im Friedenssaal in Münster. Foto: Marion von Hagen

Christliche und muslimische Fachleute diskutieren Verständnis von Säkularität

(LWI) – Kirchen- und Moscheegebäude sind nur ein Aspekt davon, dass Religion Raum für sich beanspruche, so Pfr. Dr. Mitri Raheb aus Betlehem (Palästina). Er beschreibt eine Alltagserfahrung: „Wenn ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahre, laufen dort meistens Koranverse vom Band.“ Genauso wie die grossen christlichen Prozessionen, die an Freitagen die Strassen blockieren, gehören die gesungenen Koranverse im Bus zum Leben in Betlehem. „Als säkularer Muslim oder Muslimin und als Christ muss ich das aushalten, es sei denn, ich traue mich, dem Busfahrer zu sagen, er soll das bitte abstellen.“

Territorium abstecken

Ein religiöser Konkurrenzkampf in der Öffentlichkeit, welcher nicht nur im Nahen Osten stattfindet. Bei der internationalen christlich-muslimischen Tagung „Räume gestalten. Die Rolle des Glaubens in der Öffentlichkeit“, die vom 9. bis 12. Januar in Münster (Deutschland) stattfand, setzten sich 35 muslimische und christliche WissenschaftlerInnen aus 15 Ländern kritisch mit der Situation in ihrem jeweiligen Herkunftsland auseinander. Die Tagung wurde gemeinsam von der Abteilung des Lutherischen Weltbundes (LWB) für Theologie und Öffentliches Zeugnis und dem Zentrum für Islamische Theologie (ZIT) in Münster (Deutschland) organisiert.

Mit Sorge betrachteten sie die Tatsache, dass in der Regel die Mehrheitsreligion auch den öffentlichen Raum dominiert. Religiöse Gruppen stecken bisweilen ihr Territorium ab, indem sie ihren Überzeugungen in öffentlichen Verkehrsmitteln, Einkaufszentren, Strassen und Schulen lebhaften Ausdruck verleihen. Regionen ohne klare religiöse Mehrheitsverhältnisse werden so bisweilen zum Schauplatz eines religiösen Wettstreits um die öffentliche Aufmerksamkeit, so Prof. Mohammed Ali Bakari, Politologe an der Universität Daressalam (Tansania).

In vielen Ländern werden inzwischen die gesetzlichen Grundlagen für das Verhältnis von Staat und Religion diskutiert. „2012 gab es in Norwegen eine Verfassungsänderung, der zufolge die evangelisch-lutherische Religion nicht mehr als Staatsreligion bezeichnet wird“, erläuterte Prof. Oddbjørn Leirvik (Norwegen). „Stattdessen nimmt die Verfassung unspezifisch Bezug auf das Christentum, gleichgestellt mit dem Humanismus, und erklärt sie zum nationalen Erbe und zur Wertebasis der Gesellschaft. Ich denke, das ist eine klare Tendenz, Gott und religiöse Traditionen in allgemeine Vorstellungen von Erbe, Werten und nationaler Identität zu übersetzen.“ In Norwegen wie auch in Ungarn habe das Christentum so einen Weg gefunden, seine symbolische Vormachtstellung zu erhalten, so Leirvik.

Was ist Säkularität?

Im Verlauf der Tagung in Münster wurde deutlich, dass es dieses religiöse Vormachtstreben ist und nicht etwa die Religion selbst, welches das Leben in religiös pluralen Gesellschaften erschwert. Die Bedeutung der Begriffe „säkular“ und „Säkularität“ entfachte daher eine lebhafte Debatte. Ein säkularer Staat sei grundlegend für die Lehre des Islam, erklärte Prof. Adnane Mokrani, der als tunesischer Muslim derzeit an der Päpstlichen Universität Gregoriana lehrt: „Der säkulare Staat ist kein areligiöser oder antireligiöser Staat, vielmehr ist er neutral und behandelt alle Bürgerinnen und Bürger gleich. Erzwungener Glaube ist nichts anderes als Heuchelei, ein Phänomen, das der Koran wiederholt und streng verurteilt.“

Säkularität als neutralen Raum wahrzunehmen, der offen und achtsam mit unterschiedlichen religiösen Traditionen umgeht, fällt jedoch in manchen Situationen schwer. Pfr. Lesmore Gibson Ezekiel und Dr. Imran Abdulrahman aus Jos (Nigeria) beschrieben Spannungen und Konflikte in ihrem Land und stellten fest, die Mehrheit der Bevölkerung in Nigeria stünde der Vorstellung von einem „säkularen Raum“ ablehnend gegenüber, da er als antireligiös verstanden werde.

Schutz der Schwachen

Leirvik schlug vor, den Fokus des Diskurses von der Solidarität in der Gruppe auf den Schutz der Schwachen zu verlagern und so Raum zu schaffen für eine Gleichbehandlung der BürgerInnen. In pluralen Gesellschaften sei dringend eine Stärkung des interreligiösen Dialogs erforderlich, dazu müssten Gelegenheiten geschaffen werden, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Pfr. Dr. Leonard Mtaita, Generalsekretär des Nationalen Christenrates in Tansania, berichtete von Bemühungen um den Aufbau konstruktiver interreligiöser Beziehungen angesichts extremistischer religiöser Gewalt. Jonas Widmer von der Arbeitsstelle Theologie der Friedenskirchen an der Universität Hamburg (Deutschland) seinerseits beschrieb das Engagement mennonitischer Gemeinden als Friedensstifter in der Gesellschaft.

Muslimische wie christliche WissenschaftlerInnen bekräftigten, beide religiösen Traditionen sollten sich neu mit ihren heiligen Schriften auseinandersetzen und die Grundprinzipien herausarbeiten, die Menschenwürde und Leben schützen. Dr. Clare Amos, Koordinatorin des Programms für Interreligiösen Dialog und interreligiöse Zusammenarbeit beim Ökumenischen Rat der Kirchen, betonte: „Ein Schlüsselprinzip ist der Schutz des Lebens, er ist elementarer hermeneutischer Grundsatz und durch diese Brille sollten wir die Bibel lesen.“

„Säkularität bedeutet nicht die Abkehr von Gott oder von der Religion“, betonte Prof. Abdulaziz Sachedina von der George Mason University (USA). „Sie impliziert schlicht, dass wir alle in unserer Macht stehenden Möglichkeiten nutzen, anderen unsere Überzeugungen nicht aufzunötigen, und trotzdem respektvoll und achtsam miteinander umgehen, damit wir im Sinne des Gemeinwohls zusammenarbeiten können.