„Ein Bibelwort hat die Diktatur ins Wanken gebracht“

Mit einer symbolischen Lichtgrenze erinnerten Berliner im November 2014 an den Mauerfall vor 25 Jahren. Foto: <a href="https://flic.kr/p/pGctiv">Michael via Flickr</a>, CC-BY-NC-SA

LWB-Interview mit OKR i.R. Harald Bretschneider zur friedlichen Revolution 1989

(LWI) – Die friedliche Revolution, die vor 25 Jahren zum Mauerfall in Deutschland führte, hat besonders in den Kirchen begonnen. OLKR i.R. Harald Bretschneider war zu dieser Zeit Landesjugendpfarrer in Leipzig und gründete mehrere kirchliche Friedensgruppen. Im Herbst 1989 war er Verbindungsmann der Oppositionsgruppen in Sachsen und betreute Inhaftierte u.a. der Montagsdemonstrationen.

Im Interview mit der lutherischen Welt-Information erinnert er sich an diese Zeit und erklärt, wie die Kirche damals half, ein Unrechtsregime zu stürzen.

Warum war die Friedensarbeit so wichtig für Sie?

Das hat viele persönliche Gründe. Am 13. Februar 1945 hat mich meine Mutter nach der Dresdner Bombennacht aus einem völlig zerstörten und verbrannten Haus gezogen. Ich habe mich immer wieder gefragt, warum ich in dieser Nacht gerettet wurde, und so viele andere Menschen umgekommen sind. Mit 16 Jahren habe ich mich geweigert, mich für drei Jahre zur Armee zu verpflichten, und durfte deshalb nicht Architektur studieren.

Ich habe dann ein Theologiestudium begonnen und bin 1979 Jugendpfarrer geworden – genau in dem Jahr, als die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert ist. Die sowjetischen Atomraketen, die nicht weit von uns in Kamenz standen, wurden auf mobile Fahrzeuge verladen. In der DDR fand eine unglaubliche Militarisierung des Alltags statt. Armee von der Wiege bis zur Bahre, es wurde Wehrkundeunterricht eingeführt und Spielzeugsoldaten hergestellt – alles natürlich mit dem Anspruch: Wir wollen den Frieden. Die Jugendlichen haben mich gefragt, wie sie sich verhalten sollen. Da wusste ich, ich habe überlebt um meine Erfahrungen jetzt einzusetzen, und 1980 mit anderen die erste Friedensdekade mit dem Motto „Frieden schaffen ohne Waffen – Schwerter zu Pflugscharen“ organisiert. Das war ja alles kein Spiel. Wenn man das zu Ende gedacht hätte, wären wir alle weg gewesen – tabula rasa in Deutschland.

Friedensarbeit und Militarisierung

Der Aufnäher dieser Friedensdekade wurde später zu einem Merkmal der Opposition. Wie ist das passiert?

Die Friedensdekade stand unter dem Motto „Frieden Schaffen ohne Waffen – Schwerter zu Pflugscharen“ (Micha 4.3). Zu dem Bibelwort gibt es ein Denkmal des russischen Bildhauers Jewgenij Wutschetitsch in Moskau. Nikita Chruchtschow hat der UN 1959 eine Kopie geschenkt. Sie steht vor dem Hauptquartier in New York. Ich habe ein Bild dieser Skulptur verwendet. Weil ich wusste, dass ich damit keine Druckgenehmigung bekomme, habe ich das in einer Textildruckerei auf Vlies herstellen lassen. Das galt als „Textiloberflächenveredelung“, dafür brauchte man keine Erlaubnis.

Die Jugendlichen haben die Lesezeichen in ihre Schulbücher gelegt, und damit Diskussionen in den Schulen ausgelöst. Die atheistischen Lehrer haben in den Bibeln ihrer Grossmütter nachgesehen, ob das wirklich ein Bibelwort ist! Einige Jugendliche haben sich das Vlies an die Kleidung genäht. Im Jahr darauf haben wir 100.000 Lesezeichen und 100.000 Aufnäher hergestellt.

Warum war dieses Engagement bereits gegen den Staat, der doch selbst immer Frieden und Völkerfreundschaft propagiert hat?

Es hiess, dieser „undifferenzierte Pazifismus“ sei „friedensfeindlich“, eine „negative Haltung zur sozialistischen Verteidigung“, er verunsichere Offiziersanwärter und sei wehrkraftzersetzend. Es war schon fast absurd, im Westfernsehen durften wir uns die Friedensdemonstrationen in der BRD ansehen, aber bei uns wurden sie verboten. Die Entwicklung ist trotzdem unerklärbar. Wir hatten ein Bibelwort und ein russisches Denkmal, wenn die Stasi das hätte durchgehen lassen, wäre es einfach verpufft. Aber so hat ein Bibelwort die Diktatur in der DDR ins Wanken gebracht.

Warum wurden diese gesellschaftlich wichtigen Fragen in der Kirche diskutiert?

Die Kirche war die einzige vom System legitimierte, aber nicht integrierte gesellschaftliche Grösse. Sie hielt die Gottesfrage wach, und nahm zu den Lebensfragen des Volkes Stellung. In der Kirche gab es demokratische Strukturen, es wurde eine demokratische Gesprächskultur geübt. Das waren wichtige Übungsfelder für den Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens. Wir haben Schutzräume geboten, in denen Menschen Fachfragen zu Umweltschutz und Menschenrechten diskutieren konnten wenn sie das Gefühl hatten, dass ihnen der Staat nicht die Wahrheit sagt. Und mit einer Position, die weder Widerstand noch Anpassung, weder Konfrontation noch Kollaboration war hat die Kirche das Vertrauen der Menschen erworben.

„Sauerteig des Evangeliums“

Welche Rolle haben die Jugendlichen in dieser Zeit gespielt?

Jugendliche sind wie Seismographen. Sie zeigen sehr genau die Gefährdungen im kirchlichen und im gesellschaftlichen Leben an. Viel ist aus Erfahrungen und Gesprächen mit ihnen entstanden. Mich bewegt immer noch, wie mutig, besonnen und reif die Jugendlichen diese Friedensbotschaft in die Bevölkerung getragen haben – und dafür auch viele Nachteile und Leid in Kauf genommen haben. Es war atemberaubend. Sie haben dafür gesorgt, dass eine Bibelstelle in Sachsen Gesprächsthema auf der Strasse war. Die Kirchenleitung hat dieses Engagement gefreut und berührt, sie haben klar Position bezogen und die Jugendlichen unterstützt. Sie waren der Sauerteig des Evangeliums, und haben dem Evangelium Hände und Füsse gegeben.

Sie waren im Herbst 1989 Verbindungsmann für die Montagsdemos. Was ist Ihnen aus dieser Zeit am stärksten in Erinnerung?

Es gibt einige Ereignisse, die ich nie vergessen werde. Die Wut der Menschen, als am 4. Oktober die Flüchtlinge aus der Prager Botschaft in die Bundesrepublik ausgereist sind. Die Menschen, deren Ausreiseanträge abgewiesen worden waren, wurden wie Verbrecher behandelt, während die Flüchtlinge in Sonderzügen ausreisen durften. Diese Züge sind durch den Dresdner Bahnhof gefahren, und die Wut der Menschen war so gross, dass sie einen Polizeiwagen in Brand stecken wollten. Ich war mittendrin in diesem Chaos, und habe versucht, die Jugendlichen zu beruhigen, damit sie nicht verhaftet werden.

Und natürlich die Montagsdemonstration am 9. Oktober in Leipzig. Ich wusste ja, dass die Krankenhäuser in Leipzig auf viele Verletzte vorbereitet waren. Wir sind um den Innenstadtring gezogen, und als wir an der Stasi-Zentrale an der Runden Ecke vorbeikamen, war offensichtlich, dass nichts passieren wird. Der Einsatzleiter war wohl von der Anzahl der Demonstranten zu überrascht, und hat in diesem Moment eingesehen, dass seine Einsatzkräfte nicht reichen würden. Gleich nach der Demonstration bin ich – natürlich in Begleitung - nach Dresden gefahren. In der Kreuzkirche fand noch das Friedensgebet statt, und dort habe ich dann verkündet, dass in Leipzig nicht geschossen worden war. Das war unbeschreiblich. Stille, Aufatmen, und ein unglaublicher Beifall. Mir fehlen noch heute die Worte dafür.

Mit „in Begleitung“ meinen Sie die Stasi-Agenten, die Sie die ganze Zeit überwacht haben. Hatten Sie Angst?

Es gab viele Momente, in denen ich Angst hatte. 1982 habe ich mich vor dem Forum Frieden für die Jugend von meiner Frau verabschiedet. Wir haben vor der Ruine der Frauenkirche an die Bombennacht erinnert, und ich war sicher, dass ich dafür ins Gefängnis gehe. 1984 habe ich mich auf der LWB-Vollversammlung in Budapest zur Machtfrage geäussert. Danach wollte man mir die Wiedereinreise in die DDR verweigern. Aber 1989 hatte sich in mir etwas verändert. Es gab so etwas wie eine „ent-Schüchterung“ gegen jede Form der Bevormundung. Die Menschen liessen sich von der Polizei nicht mehr so leicht aus der Ruhe bringen.

„Wache Aufmerksamkeit“ erhalten

Haben Sie mit dem Mauerfall gerechnet?

Ja, aber schon lange. Ich habe die Zahl 40 in der Bibel ernst genommen und die deutsche Einheit immer als Ziel gesehen. Trotzdem ist das alles ein Geschenk und kein Verdienst. Ich bin sehr dankbar, dass mich meine Familie und die Kirche damals unterstützt haben. Auch der LWB hat uns damals mit sehr viel Aufmerksamkeit und Gespür begleitet. Nur dank der Entscheidung, die LWB-Vollversammlung 1984 in Budapest stattfinden zu lassen, und eine Jugendversammlung einzuführen, konnte ich mit 50 Jugendlichen teilnehmen. Das vergesse ich nicht.

Heute halten Sie oft Vorträge vor Jugendlichen. Was möchten Sie ihnen vermitteln?

Mit der Erinnerung möchte ich erreichen, dass die jungen Menschen die Kraft von Busse und Umkehr als Grundhaltung des Glaubens annehmen und niemals Gottes Güte im Zusammentreffen von geschichtlichen Ereignissen vergessen. Er eröffnet Möglichkeiten in unseren menschlichen Unmöglichkeiten. Und ich halte es für unabdingbar, wachsam zu bleiben. Gottes Wort hilft uns, kritisch in der Gegenwart zu leben. Wir sind befreit davon, die Verlockungen der Marktwirtschaft zu vergöttern. Glaube hilft zu einer welterhaltenden und Wert schöpfenden Sinnorientierung, die massgeblich ist für einen sozialen Grundkonsens, der allein den Frieden in der Welt erhalten kann. Ich erzähle von der Geschichte, um für die Gegenwart zu motivieren – gegen Waffenexporte, Gier und soziale Ausgrenzung.