Lutherische Identität praktisch leben: Freiheit, Liebe, Dienst
Studienprozess ermuntert LWB-Mitgliedskirchen, sich einzubringen und über eigene Glaubenserfahrungen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu berichten
GENF, Schweiz (LWI) – Die grundlegenden und zentralen Werte des lutherischen Glaubens – Freiheit, Liebe und der Dienst an unseren Nächsten – seien in zunehmendem Maße als eine Art Gegenzeugnis zu den sich ausbreitenden Narrativen der Ausgrenzung und der Ungerechtigkeit vonnöten. Diese Vision liege dem aktuellen Studienprozess zu lutherischen Identitäten zugrunde, der die LWB-Mitgliedskirchen ermuntern will, sich in den globalen Austausch darüber einzubringen, wie der Glaube in den verschiedenen kulturellen Kontexten weltweit praktisch gelebt und erlebt wird.
Als Programmreferent des Lutherischen Weltbundes (LWB) für Identität, Gemeinschaft und Bildung hat Chad Rimmer den Studienprozess 2019 angestoßen. Bei einer Zusammenkunft in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba haben sich zahlreiche Theologinnen und Theologen damals der Idee gewidmet, die Merkmale des gemeinsamen lutherischen Erbes und die vielen verschiedenen Möglichkeiten und Wege herauszuarbeiten, wie diese in den Mitgliedskirchen und Ortsgemeinden weltweit verkörpert werden.
Chad Rimmer blickt im folgenden Interview auf die nächsten Schritte dieses Studienprozesses und spricht über den Entstehungsprozess dieser auf die Kirchengemeinschaft als Ganzes ausgerichteten Initiative, über ihre Ziele und die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie.
Warum brauchte es Ihrer Ansicht nach einen erneuten großangelegten Studienprozess dieser Art?
Fragen in Bezug auf die lutherische Identität sind schon seit der Gründung des LWB nach dem Zweiten Weltkrieg einer unserer Grundpfeiler. Damals stand insbesondere die ernste Frage im Raum, wie man zu den Wurzeln unseres lutherischen Erbes zurückkehren und wie das im öffentlichen Leben praktisch gelebt werden könne. Wir sind uns bewusst, dass die Theologie ein wichtiger Bestandteil dieser Frage ist, denn Theologie kann einen Beitrag zum Aufbau von Gesellschaften leisten, sie aber auch zerstören. Wir kommen also immer wieder zu der Frage zurück, wer wir als Lutheranerinnen und Lutheraner sind, und zu was wir als weltweite Gemeinschaft von Kirchen berufen sind.
Schon von Anbeginn haben wir immer wieder Studienprozesse durchgeführt, in denen es schwerpunktmäßig um Ekklesiologie, Gerechtigkeit oder in jüngerer Vergangenheit die Rolle der Bibel ging. Angesichts einiger Selbstverpflichtungen, die wir als Konfession eingegangen sind, und angesichts der zunehmend ausgrenzenden Narrative in der aktuellen Zeit waren wir der Meinung, dass es an der Zeit ist, darüber nachzudenken, wie wir gemeinsam auf diese Narrative der Ausgrenzung und der Ungerechtigkeit reagieren können. Wir wollen die Wurzeln unserer Einheit erkunden und herausfinden, was uns zusammenhält, ganz egal ob wir Kirchen mit einer langen oder einer kurzen Geschichte sind, unabhängig davon, ob unsere Mitgliederzahlen zurückgehen oder wir mit raschem Wachstum bei den Mitgliederzahlen oder unserem spirituellen Leben ringen.
Wie schwierig ist es angesichts der so unterschiedlichen Erfahrungen der Kirchen in den verschiedenen Teilen der Welt, zu einer Einigung zu kommen, was Teil des gemeinsamen lutherischen Erbes ist?
Aufgrund der kulturellen und sprachlichen Unterschiede, aber auch aufgrund unserer verschiedenen sozialen Geschlechter, der verschiedenen ethnischen Zugehörigkeiten und der unterschiedlichen gesellschaftlichen Verortung ist das sehr schwierig. Während uns gewissen Normen wie die Bibel, die lutherischen Bekenntnistexte und die Einheit im Gottesdienst und Amt gemein sind, bringt die Freiheit eines Christenmenschen mit sich, dass wir unseren Glauben in und durch unsere Vielseitigkeit zum Ausdruck bringen können. Das kann eine große Herausforderung sein, aber es kann auch als eine unerschöpfliche Quelle reichhaltiger Ressourcen gesehen werden. Es hilft uns dabei, nicht zu vergessen und uns bewusst zu machen, dass lutherisch sein keine statische und starre Identität ist, sondern sie immer wieder neu ausgehandelt und auf neue und lebendige Art und Weise zum Ausdruck gebracht werden muss. Und genau das ist Aufgabe der so genannten konstruktiven Theologie; die konstruktive Theologie muss erkennen, wie unsere Identitäten von unterschiedlichen Teilen unseres Seins immer wieder neu geformt und beeinflusst werden.
Was uns vereint ist das Bekenntnis unseres Glaubens, dass wir aus Gnade durch unseren Glauben an Christus gerechtfertigt sind. Das bedeutet, dass es uns allein überlassen ist, eine Beziehung zu Gott zu haben und unseren Nächsten voller Liebe zu dienen. Es gibt kein für alle vorgeschriebenes Paket von Verpflichtungen, sondern vielmehr einen Grundsatz, der uns befreit, unseren Glauben auf ganz unterschiedliche Art zu leben. Ein Prozess wie dieser Studienprozess hilft uns dabei, einen Schritt zurückzutreten und zu erkennen, dass Vielfalt kein Durcheinander und keine Verwirrung schafft, sondern vielmehr einen harmonischen Zusammenklang vieler verschiedener Stimmen, einen großen menschlichen Bildteppich.
Im Anschluss an die erste Konsultation in Äthiopien wollten Sie eigentlich mehrere Regionalkonferenzen organisieren, aber das hat die Pandemie dann verhindert, nicht wahr?
Ja, die COVID-19-Pandemi hat das geplante Vorgehen grundlegend verändert; sie hat zu einigen Rückschlägen geführt, uns aber auch unerwartete Gaben bereitet. Weil wir die Regionalkonferenzen nicht wie geplant veranstalten konnten, waren wir gezwungen, darüber nachzudenken, was stattdessen möglich sein könnte, und sind dann auf Online-Veranstaltungen ausgewichen. Diese brachten zwei Vorteile mit sich: zum einen die Demokratisierung des Prozesses, weil dieser für ein breiteres Publikum, für Ordinierte und Nicht-Ordinierte geöffnet werden konnte, auch wenn uns bewusst ist, dass einige Menschen aufgrund eines fehlenden Internetzugangs nach wie vor von der Teilhabe ausgeschlossen sind.
Zum anderen ermöglichten die Webinare eine andere Art der theologischen Reflexion; es ging nicht nur um Texte und Präsentationen, sondern es bot sich ein Raum, um Geschichten zu erzählen, Bilder miteinander zu teilen und von den ganz unterschiedlichen Erfahrungen und Kulturen zu berichten. Sie sind eine Art Vorlage geworden, um Theologie anhand eines breiten Spektrums von Methoden im Rahmen unserer lebendigen Beziehungen „zu betreiben“.
In den vergangenen Monaten haben Sie eine Reihe von Webinaren veranstaltet, in denen verschiedene Aspekte der lutherischen Identität erörtert wurden – wie erfolgreich waren diese Webinare?
Diese Frage könnten wohl die vielen hundert Teilnehmenden besser beantworten! Ich persönlich würde sagen, sie waren sehr erfolgreich, weil sie einen Raum geschaffen haben, in dem die Gespräche über die Themen fortgesetzt und vertieft werden konnten, die bei der Konsultation in Addis Abeba herausgearbeitet worden waren.
Wir konnten nicht nur markante Elemente oder Grundzüge beleuchten, die uns gemein sind, wie zum Beispiel Freiheit und die Freiheit zu handeln, oder was es genau bedeutet, Theologinnen und Theologen des Kreuzes zu sein, unsere Spiritualität zu vertiefen oder uns diakonisch zu engagieren, sondern wir konnten auch solche Stimmen ins Zentrum rücken, die einen einzigartigen Blickwinkel in die Erörterung dieser Fragen einbringen. Es war befreiend und bereichernd, die Stimmen von jungen Menschen, von Frauen in Führungsrollen und indigenen Lutheranerinnen und Lutheranern aus den verschiedenen Weltregionen zu hören, und einen Raum zu haben, in dem sich andere mit ihnen austauschen konnten.
Die nächste Etappe in dem Studienprozess wird sein, das Feedback der LWB-Mitgliedskirchen einzuholen, die alle einen Fragebogen und Studienleitfaden erhalten haben. Wie sieht der Zeitplan dafür aus?
Ganz genau. Der Fragebogen ist aus den Diskussionen im Rahmen der ersten Konsultation entstanden, die sich schwerpunktmäßig mit dem Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche und der Frage beschäftigt hat, wie wir mit unseren unterschiedlichen Gaben berufen werden, in den unterschiedlichen Kontexten zu dienen. Am letzten Tag der Konsultation sind wir in regionenspezifischen Gruppen zusammengekommen und haben Fragen formuliert, die aus unserem persönlichen Erleben entstanden und in die Umfrage und den Diskussionsleitfaden eingeflossen sind.
Wir hoffen, dass diese Fragen als eine Art Ausgangpunkt für Ortsgemeinden und Einzelpersonen dienen können, um sich mit einer ganzen Reihe von Glaubensfragen auseinanderzusetzen – von der Frage nach Spiritualität in der Musik und den Sakramenten bis hin zum Verständnis von Bekenntnisdokumenten oder der Frage, wie uns der Heilige Geist für den Dienst zurüstet. Wir rufen daher alle Kirchen und Ortsgemeinden dringend auf, an der Umfrage teilzunehmen und uns ihr Feedback bis Ende Mai zukommen zu lassen.
Was antworten Sie all jenen Menschen, die diesen Prozess angesichts der vielen anderen Herausforderungen, mit denen die Kirchen infolge der COVID-19-Pandemie konfrontiert sind, für unnötig halten?
Die COVID-19-Pandemie hat uns gezeigt, wie wichtig Resilienz ist. Sie hat die überall herrschende Ungerechtigkeit und die wirtschaftliche Ungleichheit, die Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung und beim Zugang zu notwendigen Ressourcen aufgedeckt, und sie hat aufgezeigt, dass wir herausfinden müssen, wie wir Resilienz schaffen können. Zweifelsohne ist die Religion für alle, die Teil einer Glaubensgemeinschaft sind, eine der Quellen für Resilienz. Daher ist es ein guter Zeitpunkt, uns selbst in Erinnerung zu rufen, wie eng wir miteinander verbunden sind, warum wir aufgerufen sind, einander zu lieben und zu dienen – ganz besonders in Notsituationen – und was uns an die Hand gegeben ist, um mit der Situation umgehen zu können.
Es dürfte weiterhin hilfreich sein, sich in Erinnerung zu rufen, dass die lutherische Reformation inmitten politischer und gesellschaftlicher Unruhen, vor dem Hintergrund eines sich verändernden Klimas aufgrund einer kleinen Eiszeit in Europa zu der damaligen Zeit und inmitten einer Pandemie begann, denn die Pest war zurück. Es war damals eine Zeit, sich wieder den Quellen unseres Glaubens zuzuwenden und sich zu fragen, wer wir unserer Schöpfung nach sein sollen, und warum wir aufgerufen sind, unsere Nächsten zu lieben – insbesondere angesichts der herrschenden Umstände.
Ein ganz grundlegendes Element der lutherischen Identität ist, dass wir befreit sind, einander zu lieben und zu dienen. Wenn der aktuelle Studienprozess uns das im Kontext der COVID-19-Pandemie in Erinnerung rufen kann, kann er uns vielleicht auch dabei helfen, einige andere Dinge loszulassen, die unserem Leben schaden. Ich verstehe das Leben nicht als exklusive Nullsummenspiel, bei dem uns eine begrenzte Zeit und Energie zur Verfügung steht, sondern ich denke vielmehr, dass die zentrale Frage ist, wie uns unser Glaube die Energie und Resilienz geben kann, die wir brauchen, um unsere Nächsten wirklich zu lieben und uns wirklich für ihre Würde einzusetzen.
Abschließend würde ich gerne noch fragen, was wir von den letzten Etappen des Studienprozesses erwarten können und welche konkreten Früchte daraus hervorgehen werden?
Ganz konkret wird der LWB im Juni eine Sammlung von Essays veröffentlichen, die ursprünglich im Rahmen der Konsultation in Addis Abeba präsentiert wurden. Die Sammlung wird in der Reihe der LWB-Dokumentationen erscheinen und sie wird eine große Vielfalt an Erkenntnissen aus allen Weltregionen enthalten. Ein weiteres greifbares Ergebnis werden die Ergebnisse der Umfrage sein, die hoffentlich in die nächste Vollversammlung 2023 in Polen einfließen werden. Und schließlich freuen wir uns schon jetzt auf einen lebendigen Austausch über lutherische Identitäten im Rahmen der Dreizehnten Vollversammlung 2023 in Krakau.
Aber auf dem Weg dorthin wird es noch einige weitere, vielleicht etwas weniger umfassende Ergebnisse zu ernten geben: Zum Beispiel arbeitet ein Arbeitskreis von Theologinnen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Tansania an einer zweibändigen Publikation über ihre Ansichten und Standpunkte in Bezug auf die lutherische Identität, und ein Projekt von Mitgliedern des Gurukul Lutheran Theological College in Indien dient den Kirchen vor Ort und die Jugend-Liga der ELKSA, der Evangelisch-Lutherischen Kirche im Südlichen Afrika, veranstaltet eine Reihe von Konsultationen zur Frage, was es heißt, in der Region heute jung und lutherisch zu sein.
Von LWB/P. Hitchen. Deutsche Übersetzung: Andrea Hellfritz