Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen ist nicht allein moralisch begründet

LWB-Generalsekretär ruft angesichts aktueller Krisen zu verstärkten Anstrengungen auf

Genf, 4. September 2015 (LWI) – Die derzeitige Flüchtlingskrise in Europa ist ein Schlüsselmoment, der den Kirchen die Möglichkeit gibt, die Werte von Solidarität und Menschenwürde vorzuleben, hat der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes (LWB), Pfr. Dr. Martin Junge, in einem vom 4. September 2015 datierten Schreiben an die Mitgliedskirchen erklärt.

In dem Schreiben würdigt Junge die Reaktion vieler Kirchen in Europa auf die aktuelle Krise und erinnert an die deutliche Resolution der LWB-Kirchenleitungskonsultation im Mai, in der die Kirchenleitenden im Namen der lutherischen Kirchen verstärkte Anstrengungen zur gastfreundlichen Aufnahme von Flüchtlingen zugesichert haben.

Der Generalsekretär beklagt mit deutlichen Worten das Versagen der politischen Führung Europas. „Schockierende Bilder zeigen uns, dass der derzeitige Stillstand unter den europäischen Ländern, was gemeinsame Massnahmen zur Wahrung der Rechte der Flüchtlinge angeht, sich auswirkt im Verlust täglich neuer Menschenleben, einschliesslich von Kindern“, so Junge.

„Die aktuelle Situation zeigt den Scheideweg auf, an dem die Menschheitsfamilie steht: Werden Solidarität, gegenseitige Fürsorge und Menschenwürde zukünftig noch etwas bedeuten? Wird die Vorstellung dass Menschen – auch Flüchtlinge – Rechte haben, noch etwas bedeuten? Es ist entscheidend, dass die richtigen Antworten gegeben werden.“

Junge erinnert die Mitgliedskirchen, dass der Schutz von Flüchtlingen keine ausschliesslich moralische Verpflichtung sei. „Als Unterzeichner völkerrechtlicher Verträge und insbesondere der Flüchtlingskonvention haben die europäischen Staaten die Pflicht übernommen, Flüchtlinge zu schützen.“

Bedeutende Rolle der Kirchen

Der LWB fordert seine Mitgliedskirchen auf, ihrem diakonischen Auftrag, für Flüchtlinge einzutreten, weiter nachzukommen. In einer Unterrichtung durch den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) am 3. September 2015 in Genf wurde der durch den Flüchtlingszustrom bedingte Druck auf die Aufnahmekapazitäten in Europa beschrieben. Der UNHCR hat für Griechenland, Mazedonien und Serbien den Notstand der Stufe 2 ausgerufen. Weiterhin unterstrich der UNHCR, Kirchen und Kirchenleitende hätten eine bedeutende Rolle bei der Bewältigung der Krise.

Junge betont, die Kirchen müssten sich für eine grosszügige Aufnahme einsetzen, „die die Würde jedes Flüchtlings anerkennt und den populistischen Botschaften der Angst und Ausgrenzung entgegenwirkt.“

LWB-Mitgliedskirchen u. a. in Ungarn, Österreich, Deutschland und Norwegen haben Massnahmen eingeleitet, um den ankommenden Flüchtlingen zu helfen. „Es ist ermutigend zu sehen, auf welch vielfältige Weise LutheranerInnen und andere Menschen guten Willens sich öffnen, um denen, die fliehen mussten, Gastfreundschaft und einen guten Empfang anzubieten. Im Namen der weltweiten Kirchengemeinschaft des Lutherischen Weltbundes möchte ich für diese prophetische Präsenz meine tiefe Anerkennung aussprechen und Sie in Ihren Bemühungen bestärken und ermutigen“, so Junge weiter.

„Die Situation ist empörend“

Nicht nur die europäischen Kirchen treten dafür ein, dass Fremde willkommen geheissen werden.

In einem offenen Brief an die politischen VerantwortungsträgerInnen auf der Weltebene rief am 1. September auch Bischof Dr. Munib A. Younan von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land dazu auf, die Ursachen von Flucht und Vertreibung anzugehen. Jene Länder, die Flüchtlinge aufnehmen, seien gefordert, eine Willkommenskultur zu schaffen.

„Ich bin selbst Flüchtling“, schreibt LWB-Präsident Younan. „Mein Glaube und meine Geschichte verpflichten mich, für diese Frauen, Männer und Kinder einzutreten, die an Stränden angespült werden, verwesend in Lastern an der Autobahn gefunden werden, mit Stacheldraht bewehrte Grenzen überqueren und in provisorischen Lagern ums Überleben kämpfen.“

Weiter mahnt Younan: „Die Situation ist empörend. Wir dürfen nicht vergessen, Flüchtlinge sind nicht auf Urlaubsreise. Sie haben nicht ihr Zuhause verlassen, weil sie auf Abenteuer aus waren. Die humanitäre Krise verlangt nach noch energischeren Massnahmen. Diese Menschen, unsere Brüder und Schwestern, schreien: ‚Wer nimmt uns auf? Wo ist Gerechtigkeit?‘“

Younan bekräftigt: „Gott hört das Schreien der Armen, der Unterdrückten und der Flüchtlinge.“ Der LWB-Präsident ruft die politisch Verantwortlichen auf, Flüchtlinge nicht auf das Problem zu reduzieren, das gelöst werden muss, sondern sich bewusst zu sein, dass sie, wie alle Menschen, Kinder Gottes sind, denen Begleitung, Würde und Menschenrechte zustehen.