„Vermisst und ermordet“ – Opfer von Femizid

Teilnehmerinnen einer Demonstration in Oakland, USA, im Jahr 2019. Foto: Thomas Hawk (CC-BY-NC)

Umfassende Maßnahmen für einen kulturellen Wandel und gegen geschlechtsspezifische Gewalt

GENF, Schweiz (LWI) – Das dramatische Schicksal von Frauen und Mädchen, deren Elend mit der Schlagzeile „vermisst und ermordet“ zu beschreiben ist, war Gegenstand eines Webinars im Kontext der 16 Aktionstage gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Der Lutherische Weltbund (LWB) hat sich gemeinsam mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), dem ACT Alliance und dem Christlichen Verein junger Frauen die Frage gestellt, was die Kirchen gegen die steigende Zahl von Frauenmorden unternehmen können.

Das zweiteilige Webinar hat sich mit unterschiedlichen Weltregionen befasst und während einer Podiumsdiskussion aus erster Hand Berichte von Personen gehört, die mit Frauen und Mädchen zusammenarbeiten, die Opfer von Menschenhandel und Missbrauch wurden oder sich gezwungen sahen, aus Angst um ihr Leben ihr Heim zu verlassen. Zu denjenigen, die am 25. November über das Problem in ihrem Heimatland Indonesien redeten, gehörte Faye Simanjuntak, eine junge lutherische Aktivistin. Sie hat ihr eigenes Safe House mit der Bezeichnung Rumah Faye gegründet, um sexuell missbrauchten Kindern Schutz zu geben. Sie berichtete, dass dieses Zentrum sich um erst sechs Jahre alte Opfer von Menschenhandel kümmere, und sprach über ihre Arbeit, Überlebenden zu einem selbstbestimmten Leben zu verhelfen, indem sie etwas über reproduktive Gesundheit lernen, ihre kreativen Fähigkeiten und künstlerische Ader entdecken und an Kochworkshops teilnehmen. 

Simanjuntek thematisierte ebenfalls die zugrundeliegenden kulturellen Probleme, die Gewalt gegen Frauen und Mädchen in ihrem Land ausufern lässt, und zitiert die aktuelle Aussage eines Polizeichefs, dass Frauen „für das Wasserholen, die Küche und die Bettlaken“ zuständig seien. Zwar sei Indonesien ein großes und vielfältiges Land, so Faye, aber Frauen würden nach wie vor als „Teilnehmerinnen zweiter Klasse“ betrachtet, wenn es um familiäre und öffentliche Angelegenheiten gehe.

Bekämpfung patriarchaler Strukturen

Emmanuel Gabriel, Nigerias nationaler Koordinator des LWB-Projekts Symbols of Hope, berichtete darüber, wie die Überlebenden von Menschenhandel durch psychosoziale Beratungsangebote und Maßnahmen zur Sicherung der Lebensgrundlagen unterstützt und wieder integriert werden. Er wies darauf hin, dass Frauen in seinem Land aufgrund der geschlechtsspezifischen Gewalt in ihren Gemeinschaften besonders schnell Opfer von Ausbeutung würden und dass sie deshalb motiviert seien, auszuwandern und so Opfer von Menschenhändlern würden. Deshalb, so Emmanuel, müssten die Kirchen Teil der Lösung sein, über die Gefahren aufklären und sich für einen bibelgeleiteten Weg zur Geschlechtergleichheit einsetzen.

Ein weiterer Teilnehmer der Diskussionsrunde aus Nigeria, Kehinde Babarinde, Lehrbeauftragter des West Africa Theological Seminars, sprach über Ritualmorde an Frauen, deren Körperteile angeblich mystische Kräfte hätten und den Tätern Wohlstand brächten. Er sagte, dass die Kirche eindeutig gegen diese Taten und andere barbarische Bräuche wie die Witwenvererbung Stellung beziehen müsse – dabei wird die Frau nach dem Tode ihres Mannes dazu gezwungen, ein anderes Familienmitglied zu heiraten. Darüber hinaus, so Kehinde, zögen es viele Frauen vor, Selbstmord zu begehen, und auch dies müsse als eine Form des Femizids angesehen werden.

In ihre Ausführungen über die weit verbreitete Gewalt und die Femizide in der pazifischen Region sagte Stephanie Dunn vom Fiji Women‘s Crisis Center, dass die Kirche die durch eine patriarchale Kultur bedingten Probleme zusätzlich verstärkt habe. Diese Kultur baue Hemmschwellen und Barrieren auf, so dass Frauen die Gewalttäter nicht anzeigten. Die globalen Statistiken bewiesen, so Stephanie, dass jede dritte Frau bereits sexualisierte Gewalt durch ihren Intimpartner erlebt habe. In der Region Fidschi und Pazifik steige dieser Anteil auf zwei von drei Frauen, wenn es um geschlechtsspezifische Gewalt gehe.

Aufbau einer „genderkompetenten Kirche“

Die südafrikanische katholische Theologin Nontando Hadebe, die als internationale Koordinatorin des glaubensgeleiteten Netzwerks für Gendergerechtigkeit Side by Side tätig ist, sprach darüber, wie Patriarchat, Kolonialismus und Apartheid als Strukturen aus der Vergangenheit heute noch wirksam sind und wie eng diese Probleme miteinander verbunden sind.  Frauen, so sagte sie, würden „nach wie vor so sozialisiert, dass sie unterwürfig zu sein haben“, und die Kirche müsse mehr unternehmen, um positive Frauenrollen in der Bibel ins Bewusstsein zu bringen. 

Frantseska Altezini, die als Anwältin beim CVJF in Griechenland arbeitet, berichtete darüber, wie die COVID-19-Pandemie und die aktuelle Wirtschaftskrise die grundlegenden Probleme an den Tag gebracht hätten, mit denen Frauen sich ständig auseinandersetzen müssen. Sie und andere Teilnehmende betrachteten es als wichtige Aufgabe, dass Kindern das Thema Gendergerechtigkeit bereits in der Schule nahegebracht wird und dass Lehrpläne für theologisch Einrichtungen entwickelt werden, um „eine genderkompetente Kirche“ aufzubauen.

Ein zweites Webinar am 2. Dezember befasste sich mit dem Ausmaß dieser „Schattenpandemie“ geschlechtsspezifischer Gewalt in Lateinamerika, Nordamerika und der Karibik. Valéria Vilhena, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Mulheres EIG (Evangelikale Frauen für Geschlechtergleichstellung), beschrieb die Arbeit der Organisation, die seit 2015 Überlebende und ihre Familien unterstützt. Ihr Heimatland Brasilien stehe weltweit an fünfter Stelle bei der Anzahl der Femizide hinter El Salvador, Kolumbien, Guatemala und Russland, sagte sie.

Schutz für die am stärksten gefährdeten Menschen

Imani Ama, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der University of the West Indies, sprach über das Problem der „Gleichgültigkeit und Straffreiheit“ für Täter auf Jamaika, „wo die Unterordnung der Frauen zur Normalität gehört.“ Der leichte Zugang zu Waffen und „eine Desensibilisierung gegenüber dem Wert des menschlichen Lebens“ hätten dazu beigetragen, dass Jamaika heute „zu den Hauptstädten mit der höchsten Anzahl von Morden weltweit gehört“, sagte sie. Entmilitarisierung und Dekolonialisierung, so fügte sie hinzu, seien genauso erforderlich wie „eine Theologie, die sich vom Patriarchat lossagt.“

Ebony Rempel, Geschäftsführerin des CVJF in Banff, Kanada, berichtete über die zunehmende Bedrohung indigener Frauen und Mädchen, die einem siebenfach erhöhten Femizidrisiko ausgesetzt seien. Ihre Organisation betreibt ein Frauenhaus und kümmert sich um langfristige Unterstützung und bezahlbaren Wohnraum für die Überlebenden häuslicher Gewalt. Die Zahl der Anrufe beim Krisentelefon sei während der Pandemie um 71 Prozent gestiegen, sagte sie, und auch bei Transfrauen sei das Risiko eines Femizids höher.

Abschließend berichtete die First Nations Cree-Künstlerin Amanda Wallin darüber, dass sie zwei Töchter von Frauen unterstütze, die auf einer Liste vermisster Personen in Winnipeg, Manitoba geführt werden. Diese Provinz hat die höchste Femizid-Rate in Kanada. Sie sprach darüber, wie schmerzhaft es für sie sei zu sehen, wie ihre Töchter in gewalttätigen Beziehungen lebten. Es müssten konsequentere Gesetzesvorhaben durchgesetzt werden, um Frauen vor Gewalt und Femizid zu schützen, dies gelte besonders in indigenen Gemeinschaften.

Von LWB/P. Hitchen. Deutsche Übersetzung: Detlef Höffken, Redaktion: LWB/A. Weyermüller