LWB-Nepal betreut überlebende Dalits nach der Erdbebenkatastrophe

Rosni Paryar vor ihrem teilweise zerstörten Haus. Foto: LWF/Lucia de Vries

„Machtlos in dieser Welt”

Kusunthali, Nepal/Genf, 7. August 2015 (LWI) – „Was soll ich jetzt tun?“ Rosni Paryar (19) sieht besorgt und verzweifelt aus, als sie uns ihr zusammengestürztes Haus in dem Dorf Kusunthali in den Aussenbezirken von Kathmandu, Nepal zeigt. Das oberste Stockwerk des Ziegelsteinhauses ist fast komplett zerstört, der Schutt ist in das Erdgeschoss durchgebrochen. „Meine Familie und mich hat das Erdbeben gleich zweifach getroffen“, erzählt sie.

Rosni Paryar ist die erste junge Frau aus ihrem 75-Seelen-Dorf, die die High School besucht. Sie bereitete sich gerade auf ihre Abschlussprüfungen vor, als das Erdbeben am 25. April bis auf ein Haus alle Gebäude in Kusunthali zerstörte. Jetzt lebt sie mit ihren Eltern und ihren drei Geschwistern in einer Notunterkunft. Da ihr Vater der einzige Ernährer der Familie ist, sucht Paryar seit zwei Monaten nach Arbeit. Sie hat sich als Lehrerin an verschiedenen Schulen beworben, wurde aber bisher noch nicht eingestellt. „Ohne persönliche Kontakte kommt jemand wie ich nicht in die engere Auswahl“, erzählt sie niedergeschlagen.

Mangelnde Beziehungen und Unterstützung

Rosni Paryar gehört der Kaste der Schneider an, zusammen mit anderen Handwerkerkasten eine Unterkaste der Dalits, der niedrigsten Hindu-Kaste. Früher als „Unberührbare“ bezeichnet, gehören die Mitglieder dieser Kaste von Geburt an zur untersten Stufe der Gesellschaft und werden als „unrein“ angesehen. Zwar wurde die Kastendiskriminierung in Nepal im Civil Code von 1962 und in der Verfassung offiziell verboten, die Dalits müssen aber auf ihrem Weg zu sozialer, wirtschaftlicher und politischer Gleichstellung noch viele Hürden überwinden.

Sie sind deshalb eine der fünf gefährdeten Gruppen, die vom Lutherischen Weltbund (LWB) Nepal in besonderer Weise betreut werden. „Dalit-Handwerker haben auch in normalen Zeiten keinen gleichberechtigten Zugang zu Dienstleistungen“, erklärt der Direktor des LWB-Programms in Nepal, Prabin Manandhar. „Sie wohnen meistens in abgelegenen Dörfern, z.B. auf Berggipfeln, und verfügen nicht über die politischen Verbindungen, die eine hilfreiche Voraussetzung für Unterstützung sind.“

Unmittelbar nach dem Erdbeben, als die erste Katastrophenhilfe anlief, kam der LWB Nepal allen Haushalten in den zugeteilten Gebieten umfassend vor Ort zu Hilfe. „Dalit-Gemeinschaften wie Kusunthali erhielten die gleiche Unterstützung wie alle anderen Dörfer auch“, sagt Manandhar. Jetzt, da die Hilfsaktionen des LWB in erster Linie den Wiederaufbau unterstützen, liegt der Schwerpunkt auf Haushalten mit weiblichem Haushaltsvorstand, älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen und eben Dalits wie Rosni Paryar.

Unterschiedliche Bedarfslagen

In den 14 Distrikten, die von dem Erdbeben heimgesucht wurden, gehören 13% der Bevölkerung einer Handwerker-Kaste wie Schneider, Schuster, Schmiede und Wäscher an. Als Dalits hatten sie auch schon vor dem Erdbeben ein hartes Leben. Nepal muss sich inzwischen auch auf internationalen Märkten behaupten, und die handgefertigten einheimischen Produkte stehen im Wettbewerb mit preiswerterer Massenware. Der Verkauf der Produkte ist schwieriger geworden. Schätzungen zufolge leben 41% der Dalits unterhalb der Armutsschwelle.

In Kusunthali stellte sich schnell heraus, dass Handwerker einen anderen Hilfsbedarf haben als andere Gruppen. Keine der Dalit-Familien besitzt Land abgesehen von dem Grundstück, auf dem ihr Haus stand. Fast alle sind abhängig von Schneiderarbeit und Tagelöhnerarbeit, um zu überleben. Ohne Land als Sicherheit erhalten nur wenige einen Kredit bei der Bank zum Wiederaufbau des Hauses.

Die Einnahmemöglichkeiten aus dem Schneiderhandwerk haben sich seit dem Erdbeben drastisch verringert, denn fast alle Nähmaschinen wurden unter dem Schutt begraben. Einige Frauen nähen von Hand weiter, und eine geborgene Nähmaschine wurde soeben repariert. Die alten Kunden besuchen aber das Dorf nicht mehr. Private Kunden brauchen all ihr Geld, um die Schäden zu beheben, und bestellen deshalb kaum noch neue Kleidung. Viele Geschäftskunden haben ihre eigenen Betriebe noch geschlossen, weil ihrer MitarbeiterInnen nicht zu Arbeit erscheinen – sie helfen ihren Familien beim Ausbringen von Saatgut und bei der Ernte oder bauen stabilere Unterkünfte.

Rosni Paryar fragt sich, wie die Menschen sich jemals von dem Erdbeben erholen sollen. „In der Generation meiner Eltern kann fast niemand lesen oder schreiben“, sagt sie. „Sie haben in dieser Welt keinerlei Macht und Einfluss und sind vollständig abhängig von Handarbeit. Mein Vater muss sechs Familienmitglieder ernähren. Wenn ich keine Stelle finde, um ihn zu unterstützen, wie auf Gottes Erden soll er das schaffen?“

Unterstützung durch den LWB

Prabin Manandhar sagt, Geschichten wie die von Rosni kann man im ganzen Land hören. „Während andere Familien bald die Ernte einfahren oder wieder zur Arbeit gehen können und nicht mehr abhängig sind, wird es bei den Handwerkern ohne Land wesentlich länger dauern, bis sie sich wieder erholt haben. Deshalb sehen wir uns in der Pflicht, die erforderlichen Werkzeuge und andere Hilfsgüter zur Verfügung zu stellen, damit die Dalits wieder Fuss fassen.“

Inzwischen sind die von LWB gelieferten Wellbleche in Kusunthali eingetroffen. Damit können die Familien ein stabileres Dach auf ihre provisorischen Behausungen setzen. Hilfe für den Lebensunterhalt und psychologische Beratung folgen in Kürze. Mit der zusätzlichen Unterstützung von LWB Nepal haben die vom Erdbeben betroffenen Dalit-Familien eine Chance, sich ihr Leben wieder aufzubauen.

Im Rahmen der Soforthilfen nach den Erdbeben 2015 hat LWB Nepal mit Unterstützung von Mitgliedern des ACT-Bündnisses mehr als 110.000 Familien geholfen. Die Organisation hat sich zur Aufgabe gemacht, Familien in fünf betroffenen Distrikten unter die Arme zu greifen und sie beim Wiederaufbau ihrer Existenz durch Nahrungssicherung, Unterkünfte, Wasserversorgung und Abwasserreinigung sowie psychologische Hilfe zu unterstützen mit der Perspektive einer langfristigen Entwicklung.

Beitrag von Lucia de Vries/LWB Nepal.