Kehrwoche im Kirchturm

Vom Dach aus hat der Mesner einen tollen Ausblick über Stuttgart. Foto: EMH/Ute Dilg

Vom Flüchtling zum Mesner

Stuttgart, Deutschland/Genf. (LWI) - Adam Gnany kam als Flüchtling nach Deutschland. Heute ist er Mesner der Hospitalkirche in Stuttgart.

Die Glocken haben es Adam Gnany angetan. Schon als Kind hat er den Männern zugeschaut, wie sie sich ans Seil hängten, um die Glocken zum Klingen zu bringen. Damals in Bagdad. Heute lebt Gnany in Stuttgart. Wenn er sich in der Hospitalkirche kurz vor dem Vaterunser in die Sakristei schleicht, dann muss er mit einem Finger über ein Touchpad streichen, und schon läutet die Gebetsglocke.

Adam Gnany ist Mesner und Hausmeister der Hospitalkirche in Stuttgart. Der 26-jährige Iraker kam im November 2015 nach Deutschland – mit Bus und Bahn über die Balkanroute. Als Christ war er in seinem Heimatland Anfeindungen ausgesetzt. Die Sicherheitslage wurde immer schlechter, das Leben immer schwieriger. Schließlich setzte sich Gnany in die Türkei ab. Seine Mutter und zwei seiner Schwestern leben heute noch im Irak. In Deutschland angekommen kam Gnany einige Monate bei Bekannten in Mannheim unter. Danach wurde er in Stuttgart heimisch.

„Anfangs war es nicht einfach, weil ich nicht gut Deutsch konnte“, erzählt Adam Gnany, der in seiner Heimat Betriebswirtschaft studiert und bei einer Maschinenbaufirma gearbeitet hatte. Aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse brach er sein erstes Praktikum an einer Hotelrezeption wieder ab. Zwei Monate arbeitete er dann in einem evangelischen Kindergarten, bevor er schließlich von der Agentur für Arbeit an die Hospitalkirche vermittelt wurde. Nach deren Renovierung, die 2017 abgeschlossen war, brauchte die Gemeinde einen neuen Mesner. Eine Chance für Gnany. Aus einem Mesner-Praktikum wurde im Sommer 2017 schließlich ein fester Mesner-Vertrag.

Adam Gnany hat viel zu tun. In der Hospitalkirche, eine der drei City-Kirchen in Stuttgart, finden viele Gottesdienste, Konzerte und Veranstaltungen statt. Ständig gibt es Stühle zu rücken, den Altarraum für unterschiedliche Gelegenheiten herzurichten oder Blumenschmuck zu besorgen. Jede Woche gehen der Mesner und Pfarrer Eberhard Schwarz die Planung für die folgenden Tage durch – meist mehrere Din A4-Seiten, auf denen genau aufgelistet ist, was wann zu tun ist.

Ohne die Unterstützung von Pfarrer Schwarz und Ehrenamtlichen in der Kirchengemeinde hätte es Adam Gnany anfangs schwer gehabt, alle Aufgaben zu bewältigen. Wie läuft in Württemberg ein evangelischer Gottesdienst ab? Welche Glocken werden wann geläutet? Und dann die ganze Technik. „Als ich zum ersten Mal die Beleuchtungsanlage ausprobiert habe, bin ich nach jedem Knopfdruck in die Kirche gelaufen, um zu schauen, was gerade passiert ist“, erinnert sich der 26-Jährige schmunzelnd. Auch mit den kirchlichen Begriffen hatte Gnany zunächst seine Schwierigkeiten. Was ist ein Ambo*? Was eine Empore?

Tröstlich fand der junge Iraker, dass selbst manche Deutsche diese Begriffe nicht kennen und beim Mesnerkurs nachfragen mussten. Zweimal war Gnany im Stift in Bad Urach, um sich für seine neue Aufgabe weiterzubilden. Bei dem fünftägigen Grundkurs und einem viertägigen Aufbaukurs des Evangelischen Mesnerbunds Württemberg lernen die angehenden Mesnerinnen und Mesner praktisches Berufswissen für ihren Dienst – etwa wie man mit Kunstwerken in einer Kirche umgeht oder den Kirchenraum energetisch sinnvoll heizt. Außerdem bekommen sie biblische und kirchengeschichtliche Grundlagen vermittelt. Adam Gnany schätzt den Kontakt zu den Kolleginnen und Kollegen. „Wir haben sogar eine WhatsApp-Gruppe eingerichtet“, berichtet er.

Doch auch wenn sich Gnany in Stuttgart mittlerweile wohl fühlt, manchmal überkommt ihn doch das Heimweh – trotz täglicher Mails seiner Verwandten oder kurzen Gesprächen über Internetchatdienste. „Ich habe meine Mutter seit über zwei Jahren nicht gesehen“, sagt er. Gerne würde er sie treffen. Dafür spart er eisern, denn momentan wäre die Gelegenheit günstig. „Ich habe einen gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland und einen Pass. Vielleicht könnten wir uns ja in der Türkei treffen“, überlegt Gnany. Momentan kuriert er sein Heimweh, indem er Gottesdienste der irakischen und der arabischen Gemeinden in Stuttgart besucht.

Oder er geht auf den Hospitalkirchturm. „Die Treppen sind ein Sportprogramm“, sagt er und steigt die kahlen Betonstufen zu den sechs Glocken hinauf. Er kann immer nur einige Minuten bleiben, denn alle Viertelstunde wird es laut. Dann läutet das Uhrwerk. Zweimal im Jahr bleibt Gnany aber länger oben. Dann nimmt er einen Gehörschutz mit und den Teleskopbesen, mit denen er die Glocken abfegt. Dann ist Kehrwoche im Kirchturm.

 

Ute Dilg, Evangelisches Medienhaus, Stuttgart

 

* Ein Ambo ist das Lesepult in einer Kirche, an dem heutzutage oft nicht nur die aus dem Evangelium vorgelesen, sondern häufig auch die Predigt gehalten wird.