Interreligiöse Forderungen nach einem gerechteren Wirtschaftssystem

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Webinar mit Stimmen aus christlichen, jüdischen, muslimischen und rastafarischen Glaubensgemeinschaften

GENF, Schweiz (LWI) – „Just Finance“ ist mehrdeutig und bedeutet, dass es nicht „nur“ um Finanzen geht, sondern auch um ein „gerechtes Finanzsystem“ und um Werte wie Fairness, Gleichbehandlung, Vertrauen und Aufrichtigkeit. Aus diesem Grund können Glaubensgemeinschaften einen wichtigen Beitrag für die Suche nach einem gerechteren globalen Wirtschaftssystem leisten. 

Auf dem Seminar, das gemeinsam vom Lutherischen Weltbund (LWB), dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK) und dem Rat für Weltmission (CWM) veranstaltet wurde, sprachen Personen unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften über die Erkenntnisse ihrer unterschiedlichen religiösen Traditionen zu Themen wie Verschuldung, Ungleichheit, Wiedergutmachung und Versöhnung.

Die Online-Diskussion am 2. Oktober, geleitet von Pfr. Dr. Sivin Kit, LWB-Programmreferent für öffentliche Theologie und interreligiöse Beziehungen, ist Teil einer Initiative für eine neue internationale Finanz- und Wirtschaftsarchitektur (NIFEA). Das Ziel der Initiative besteht in der Vertiefung der interreligiösen Zusammenarbeit auf dem Weg zu einer gerechten und nachhaltigen globalen Wirtschaft.

Kommodifizierung als koloniales Vermächtnis 

Der christliche Podiumsgast, Pfarrerin Dr. Karen Georgia Thompson, ist in leitender Funktion in der zentralen Verwaltung der Vereinigten Kirche Christi in den USA tätig und verantwortlich für weltweite Mission. Sie sprach über die Aufgabe der Kirche, sich selbst zu prüfen und die Frage zu stellen, inwieweit sie von der kolonialen Kommodifizierung und Ausbeutung profitiert hat, die den heutigen wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zugrunde liegen.

Es sei kaum möglich, über Finanzschulden zu sprechen, so sagte sie, ohne zunächst über die moralische Schuld gegenüber denjenigen Menschen zu reden, die während der jahrhundertelangen kolonialen Expansion westlicher Nationen unter „Versklavung, Manipulation historischer Wahrheiten und fehlender Gleichstellung“ gelitten hätten. „Dass dem afrikanische Kontinent seine Menschen und Bodenschätze geraubt wurden, muss ein Thema der Gespräche über Reparationen sein“, insistierte sie.

Die christlichen Schriften, so sagte sie weiterhin, seien voll von Textstellen, in denen es um gerechte Beziehungen, Versöhnung, Vergebung und Wiedergutmachung gehe. Diese Texte „müssen uns als Grundlage für diese Gespräche über Schuldenerlass und Reparationen dienen.“ 

Befreiung von Verschuldung und Sklaverei

Der jüdische Podiumsgast, David Krantz, Fellow der nationalen Wissenschaftsstiftung der School of Sustainability der Arizona State University, verwies auf alte jüdische Schriften, die bestimmend für die Diskussionen unserer Zeit über das seien, was er als „koschere Wirtschaft" bezeichnete. Insbesondere sprach er über drei Konzepte von „Zinsen“ oder Darlehen, die im Judentum strikt verboten sind, sowie über ein Sabbatjahr alle sieben Jahre als Ruhepause und ein Jubeljahr, das alle 50 Jahre stattfindet.

Diese Vorstellungen von Schuldenerlass und Befreiung aus der Sklaverei, von Entlohnung und Neuverteilung von Land, so Krantz, hätten auch andere Glaubensgemeinschaften, Regierungen und zivilgesellschaftliche Organisationen zu Initiativen wie der Jubilee-Kampagne im Jahre 2000 veranlasst. Diese alten jüdischen Religionsgesetze, so Krantz, „sind auch heute noch wichtig in ihrer Radikalität“ und sollten die Grundlage für alle Versuche sein, unser aktuelles, nicht nachhaltiges kapitalistisches System zu reformieren.

Der muslimische Teilnehmer an der Podiumsdiskussion, Yusuf Jha, der bei der  Behörde für Islamische Angelegenheiten und Waqf-Stiftungen als islamischer Jurist tätig ist, stellte die Frage, wie „unsere theologischen Perspektiven in tatsächliche politische Maßnahmen und in die politische Praxis umgesetzt werden können, die für die politische Entscheidungsfindung tatsächlich etwas bewirken.“ Er verwies auf das Buch „Debt: the first 5000 years“ des verstorbenen Publizisten David Graeber, der sich mit der Frage befasst hat, wie die „Geschenkökonomie“ in den antiken Gesellschaften funktioniert hat. Diese ursprünglichen Wirtschaftssysteme hätten als eine Art Kreditnetzwerk funktioniert, erklärte Jha, und seien Beispiele für eine Gesellschaft mit einem wirklichen „freien Handel und einem freien Markt“, in der die Tatsache, in jemandes Schuld zu stehen, faktisch „eine Form der Zusammenarbeit und eine Art von Beziehung“ mit anderen Menschen darstellte.

Handel als Zusammenarbeit, nicht Ausbeutung

„Geld wurde erfunden, um es in Umlauf zu bringen“, fuhr er fort, aber „wenn man anfängt, es zu horten, dann leistet man einem für sich selbst und die Umwelt destruktiven Paradigma Vorschub.“ Heute, so Jha, stünden wir vor der Entscheidung, zu dieser Idee des Handels als eine Form der Zusammenarbeit zurückzukehren oder ihn weiterhin als „eine Chiffre für Feindschaft, Entfremdung und Separation anzusehen.“ Er verglich die derzeitige „Wachstumsmanie“ unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems mit der „Logik einer Krebszelle, die wachsen muss, um zu überleben“, dabei aber ihren Wirt in diesem Prozess zerstöre.

Ein weiterer Podiumsgast, der Rastafari Dr. Jahlani Niaah, unterrichtet am Institute for Caribbean Studies an der University of the West Indies und griff das Thema der finanziellen Ausbeutung im Kontext der COVID-19-Pandemie auf, „wobei Geld einer der Überträger des Virus ist.“ Niaah sprach über die Ursprünge des Rastafarianismus, der im 20. Jahrhundert entstand und „die postkoloniale Transformation von Völkern begleitete, die durch die gemeinsame Unterdrückung durch Staat und Kirche entmenschlicht waren.“

Niaah wies auf die „Dissonanz zwischen Wissen und der Bereitschaft hin, entsprechend zu handeln“, und betonte die Notwendigkeit von Reparationen, um unsere aktuellen Probleme wie Rassismus, Armut, Konflikte und soziale Ungleichheiten zu lösen. Er kritisierte die Art der Kreditvergabe und dass „Zinsen dazu verwendet werden, um kapitalistische Volkswirtschaften zu stützen“, und stellte fest, dass die Entwicklungsländer „niemals einen Marshallplan hatten, mit dem die Amerikaner Europa die finanziellen Mittel für den Wiederaufbau auch seiner Respektabilität zur Verfügung gestellt haben.“

Mit Rückblick auf das Seminar sagte LWB-Diskussionsleiter Sivin Kit: „Ich glaube, wir haben gelernt, eine kritische Sicht der Beziehungen zwischen unseren Glaubensrichtungen und den negativen Auswirkungen des derzeitigen Finanzsystems auf die Armen zu entwickeln. Wir sind aufgefordert, den Schrei all derjenigen zu hören, die ob ihrer Schulden geknechtet sind.“ Abschließend sagte Kit: „Solidarität mit den schutzbedürftigsten Menschen ist unverzichtbar, aber ein Systemwandel ist angesichts der COVID-19-Pandemie noch dringender.“