Interreligiöse Beziehungen: Lasst uns am Baum des Lebens zusammenkommen
Lutherische und jüdische Fachleute unterstreichen Notwendigkeit, Beziehungen in Zeiten von Polarisierung zu erneuern und zu stärken
GENF, Schweiz (LWI) – In Zeiten, die von feindseligen Stimmungen und Polarisierung in der Gesellschaft geprägt sind, sei es die größte und wichtigste Herausforderung für religiöse Menschen, „Führungspersonen hervorzubringen“, die Spaltung zwischen den verschiedenen Religionen überwinden und die Beziehungen zwischen ihnen stärken können. Über die Bedeutung und Tragweite dieser Aufgabe haben sich lutherische und jüdische Theologie-Fachleute und Lehrende im Rahmen eines Webinars am 16. Mai ausgetauscht, das unter der Überschrift „Gathering around the Tree of Life“ (Lasst uns am Baum des Lebens zusammenkommen) stand.
Geleitet wurde die Diskussion, die sich schwerpunktmäßig mit der Dringlichkeit einer Erneuerung der lutherisch-jüdischen Beziehungen beschäftigte, von Pfr. Dr. Sivin Kit, dem Programmverantwortlichen des Lutherischen Weltbundes (LWB) für Öffentliche Theologie und Interreligiöse Beziehungen. Die Veranstaltung mit Teilnehmenden aus vielen Ländern weltweit fand statt, während der LWB an einem Studiendokument arbeitet, das den Mitgliedskirchen helfen soll, sich in ihren jeweiligen nationalen und regionalen Kontexten erfolgreicher in einen Dialog mit ihren jüdischen Nächsten einzubringen.
Pfarrerin Rivka Schunk, Mitarbeiterin für theologische Forschung beim LWB, begrüßte die Teilnehmenden und fasste zusammen, dass der Aufstieg von Verschwörungstheorien während der COVID-19-Pandemie in vielen Ländern weltweit zu einem Anstieg von Antisemitismus geführt habe. Der LWB habe sich seit seiner Gründung 1947 im Dialog mit den jüdischen Glaubensgemeinschaften engagiert, erklärte sie, und es gebe ein zunehmend großes Bewusstsein für die Notwendigkeit einer selbstkritischen Prüfung in Bezug auf Martin Luther antijüdische Schriften.
Demut und Zuhören
Die Direktorin der LWB-Abteilung für Theologie, Mission und Gerechtigkeit, Eva Christina Nilsson, hielt in ihren Eröffnungsworten fest, dass eine weiter wachsende Zahl an Geflüchteten und Migrierenden bedeute, dass die Bemühungen um ein friedliches Zusammenleben in einem multi-religiösen Kontext wichtiger denn je seien. Sie sagte, dass „eine von Demut und Aufrichtigkeit geprägte Haltung, wenn wir einander zuhören und miteinander reden“ von zentraler Bedeutung sei, um dem Antisemitismus, der Islamophobie und der anti-christlichen Rhetorik entgegenzuwirken, die oftmals als Rechtfertigung für Gewalt gegen Religionsgemeinschaften benutzt würden.
Nilsson zitierte den schwedischen Bischof Krister Stendahl und unterstrich seine drei Leitprinzipien, die für ein ehrliches interreligiöses Miteinander notwendig seien: „Überlassen Sie es der anderen [Person] zu definieren, wer sie ist; vergleichen Sie nicht den besten Aspekt der eigenen Religion mit dem schlimmsten der anderen; suchen Sie im anderen etwas, um das Sie sie wirklich beneiden“ oder was Sie bewundern können.
In seiner Antwort auf diese Worte erinnerte sich Rabbi Dr. Joseph Kanofsky von der Kehillat Shaarei Torah, einer modernen orthodoxen Synagoge in Toronto, Kanada, an das Gefühl von „Freundschaft, Wohlwollen und gegenseitigem Respekt“, das er in seinen Gesprächen mit lutherischen Freundinnen und Freunden als Teenager im Bundesstaat Washington an der Westküste der Vereinigten Staaten erlebt habe. Seine beiden Eltern, sagte er, hätten ihn immer wieder ermutigt, offen zu sein und „ein ehrliches Interesse am Anderen“ zu entwickeln.
Güte, Großzügigkeit, Hoffnung
In der derzeitigen Atmosphäre, die von „Falschinformationen, der so genannten ‚Cancel Culture‘, der direkten Benennung von Fehlverhalten und Versäumnissen anderer, ganz unabhängig davon, ob diese real oder nur von einem selbst als solche wahrgenommen werden“ geprägt sei, sagte Rabbi Kanofsky, seien religiöse Menschen aufgerufen, die wertvolle und zunehmend knapp vorhandene Ressource einer „aufrichtigen Großherzigkeit, Güte und Demut“ zu bewahren und in die Welt zu tragen.
Unter den Referierenden war auch Rabbi Tamar Elad-Applebaum, Gründerin der israelischen Gemeinschaft ZION in Jerusalem und Mitbegründerin eines pluralistischen Ausbildungsprogramms für israelische Rabbinerinnen und Rabbiner. Es sei die Pflicht von religiösen Führungspersonen heute, sagte sie, „Menschen auch in den schwierigsten Momenten um den Baum des Lebens zu versammeln“ und in einer Welt, in der Menschen oftmals „von Hass und einem Gefühl der Gegnerschaft erfüllt seien“, gegenseitigen Respekt und Freundschaft zu lehren.
Die größte Herausforderung, sagte sie weiter, sei es, Führungspersonen hervorzubringen, die freundschaftliche Verbindung zu Menschen ganz unterschiedlicher Glaubenstraditionen hätten, und in einer Welt, in der viele nur das Gefühl von Verzweiflung und Misstrauen gegenüber allen Anderen kennen würden, „ein Bild der Hoffnung“ zu zeichnen. Sie berichtete, dass sie selbst in ihrer Kindheit und Jugend in Jerusalem keine Berührungspunkte mit christlichen Gläubigen gehabt habe, und sagte, dass es „ihre wichtigste Aufgabe als Rabbinerin ist, Vorbild für eine neue Art der öffentlichen Erziehung zu sein“, durch die die Menschen lernen könnten, Heilung für ihre Geschichte des Hasses und der Spaltung zu finden. Als Hüterinnen und Hüter vom Baum des Lebens sei es an uns, sagte sie, ihn „zu pflegen und sicherzustellen, dass seine Wurzeln tief reichen“.
Self-awareness and self-criticism
Dr. Jakob Wirén, Assoziierter Professor an der Universität Lund und theologischer Berater von Erzbischöfin Antje Jackelén von der Schwedischen Kirche, räumte ein, dass eine „antijüdische Substitutionstheologie im lutherischen Denken und Predigen so fest verwurzelt sei“, dass sie „für die christliche Theologie allgemein und für die lutherische Theologie im Speziellen“ auch heute noch ein Problem darstelle.
Aber Eigenwahrnehmung und Selbstkritik würden in der Kirche von heute zunehmen, sagte er weiter, genau wie „das praktische Engagement auf lokaler Ebene, bei dem jüdische, christliche, muslimische und buddhistische Gläubige gemeinsam gegen Antisemitismus“ und andere Formen von Rassismus oder Diskriminierung aufgrund von Religionszugehörigkeit eintreten würden.
Ein weiterer jüdischer Podiumsteilnehmer, Rabbi Dr. David Sandmel, der Vorsitzende des Internationalen Jüdischen Komitees für interreligiöse Konsultationen (IJCIC), sprach über die bedeutenden Fortschritte, die in den vergangenen Jahrzehnten gemacht wurden. Er erinnerte an ein 1983 von LWB und IJCIC gemeinsam veröffentlichtes Dokument sowie an eine neuere Erklärung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika (ELKA) und bezeichnete beide Dokumente als „wunderbare Ressourcen, um das Gespräch wieder neu zu beleben“.
Aber es gebe auch immer noch Herausforderungen, so Sandmel weiter, insbesondere bei der Modernisierung von Lehrplänen an Universitäten und Seminaren. Viele jüdische Gläubige würden Luther nur aus Schriften kennen, von denen sich der LWB und die ELKA bereits distanziert hätten, aber sie wüssten nichts über die „persönlichen und institutionellen Freundschaften“, die in den letzten Jahrzehnten entstanden seien. „Wir müssen mehr über unsere christlichen Nächsten lernen“, sagte er, während Christinnen und Christen sich der „bis ins Mark gehenden emotionalen Wirkung“ der negativen Beschreibungen von Pharisäern und anderen jüdischen Führungspersonen der Antike bewusst werden müssten.
Dr. Esther Menn, Studiendekanin und Professorin für Altes Testament/die Hebräische Bibel am Seminar für Lutherische Theologie in Chicago, sprach über „die Verlagerung von jüdisch-christlichen Beziehungen hin zu einem umfassenderen interreligiösen Engagement“. Aber die „Spezialisierung in dieser besonderen Beziehung“ sei wichtig, um auf die Fortschritte der letzten Jahrzehnte aufzubauen, unterstrich sie.
Jetzt wo lutherische Gläubige mehr über ihre Wurzeln im jüdischen Glauben lernen, sagte sie, „sind sie geschockt und beschämt über ihre Mitschuld am Antisemitismus“ der Vergangenheit. Es sei wichtig, dran zu bleiben, „Geschehenes zu korrigieren, unsere Theologie zu präzisieren und unsere Führungspersonen und Anhängerinnen und Anhänger zu lehren“, sagte sie, um „die gegenwärtigen Beziehungen zu jüdischen Einzelpersonen und Gemeinschaften zu stärken und damit ein strapazierfähiges Netzwerk zu schaffen, auf das wir uns in Zeiten großer Belastung verlassen können“.
Dr. Leonard Chrysostomos Epafras, Mitarbeiter und Forscher des indonesischen Konsortiums für Religionswissenschaft, brachte einen Blickwinkel von außerhalb des europäischen und nordamerikanischen Kontexts ein und berichtete über die vielen Herausforderungen, mit denen die winzig kleine jüdische Minderheit in seinem Land konfrontiert sei, dem größten muslimischen Land der Welt, in dem das Judentum nicht zu den sechs offiziell anerkannten Religionen zählt.
Epafras wies darauf hin, dass es in der Bevölkerung Indonesiens trotz eines vornehmlich antisemitischen Tons in einem Großteil des öffentlichen Diskurses ein wachsendes Interesse an der Geschichte und Identität dieser kleinen jüdischen Gemeinschaft gebe. Erst vor kurzem habe in Nordsulawesi die erste Holocaust-Gedenkstätte in Südostasien eröffnet, berichtete er, und in der Provinz sei auch die wahrscheinlich größte Menora der Welt zu finden.
Rabbi Josh Standon, der spirituelle Leiter des East End Temple in New York City und leitender Mitarbeiter im National Jewish Center for Learning and Leadership, hielt in seinen abschließenden Worten fest, dass wir in unseren interreligiösen Beziehungen „am besten“ in den Gesprächen über geographischen Zeitzonen hinweg, aber auch in den Gesprächen „zwischen vergangenen und zukünftigen Generationen“ lernen würden. Er unterstrich, wie wichtig es sei, dass Kindern in ihren Familien beigebracht werde, andere Menschen zu respektieren und von ihnen zu lernen, dass Glaubensgemeinschaften sich weiterhin mit den komplexen Sachverhalten ihrer eigenen Vergangenheit beschäftigten, und dass es nur durch solche Gespräche möglich sei, Hoffnung für die Zukunft zu säen.
LWF/P. Hitchen