Hochschulseelsorge jenseits von Kirchenmauern

Pfarrerin Sarah Farrow (l.) mit Studierenden im International Lutheran Student Center in London. Das Foto entstand vor den Kontaktbeschränkungen wegen der Coronavirus-Pandemie. Foto: ILSC

Interview mit Pfarrerin Sarah Farrow, Lutherische Kirche in Großbritannien   

OXFORD, England/GENF (LWI) – „Fragend und forschend“, mit diesen Worten beschreibt Pfarrerin Sarah Farrow ihre eigene lutherische Identität und die Studierenden, die sie in ihrer Arbeit als Hochschulseelsorgerin begleitet. Farrow ist Hochschulseelsogerin an drei Standorten: am Mansfield College der Universität Oxford, am Kings College in London und am International Lutheran Student Center in London.

Darüber hinaus ist Farrow beigeordnete Pfarrerin an der St. Anne‘s Kirche in London, einer der 13 Gemeinden der Lutherischen Kirche in Großbritannien (LCiGB), einem Mitglied des Lutherischen Weltbundes (LWB).

Ihre Rolle als Hochschulseelsorgerin für Studierende verschiedener Religionen und Glaubenstraditionen sei es, „zu hinterfragen und zu geben, wenn die Zeiten nach Veränderung und Großzügigkeit verlangen“. Für Farrow sind das zentrale lutherische Werte. 

Wie würden Sie Seelsorge definieren?

Seelsorge braucht eine Vertrauensbasis.  Seelsorge findet nicht nur innerhalb der Mauern der Kirche statt, bei der Seelsorge geht es vor allem darum, Menschen zur Seite zu stehen. 

Was genau tun Sie als Hochschulseelsorgerin?

Als Hochschulseelsorgerin habe ich eine ganz besondere Funktion, denn ich gehöre nicht zum akademischen Lehrkörper. Ich beurteile die Leistung der Studierenden nicht, und ich bin auch nicht Teil der Verwaltung, die dafür sorgen will, dass die Studierenden eingeschrieben bleiben. Als Hochschulseelsorgerin habe ich keine andere Agenda, als einfach nur für die Studierenden da zu sein.

Ich biete ihnen einen Raum, um auszusprechen, was sie sonst nirgends oder niemandem gegenüber aussprechen können. Aber es erfordert Vertrauen und braucht Zeit – insbesondere, wenn man einen Kollar trägt –, bis eine solche Offenheit möglich ist. Manche haben bestimmt auch Sorge, dass der Seelsorger oder die Seelsorgerin da ist, um sie zu bekehren. Aber ich bin nicht hier, um jemandem meinen Glauben aufzuzwingen. So verkündigen wir das Evangelium ohne Druck.

Auch für die Mitarbeitenden und Lehrenden bin ich als Seelsorgerin da, und auch in diesen Beziehungen gilt das Gesagte.

Was gefällt ihnen besonders an der Arbeit mit den Studierenden, Lehrenden und Mitarbeitenden am Mansfield College?

Mansfield war schon immer ein nonkonformistisches College. Es war immer ein College, an dem Andersdenkende willkommen waren. Menschen, die es ablehnten, sich einfach der Kirche von England unterzuordnen, und die früher nicht an der Universität Oxford studieren oder hier am religiösen Leben teilnehmen durften. Ursprünglich war Mansfield ein College der Kongregationalisten, aber auch die Anhängerinnen und Anhänger anderen reformierten Gedankenguts waren immer willkommen. Der Lutherische Weltbund hat bis vor einigen Jahren, als das College noch Geistliche für die Ordination ausbildete, einen lutherischen Tutor oder eine lutherische Tutorin entsandt.

Bis heute kommen Studierende nach Mansfield, die das Gefühl haben, dass Oxford für sie nicht die richtige Wahl ist. Unter den verschiedenen Colleges in Oxford ist das Mansfield College dafür bekannt, dass mehr als 90 Prozent der Studierenden im Grundstudium von staatlich finanzierten Schulen kommen. Wir haben den größten Anteil von Studierenden mit schwarzer Hautfarbe, asiatischer Abstammung und anderer ethnischer Minderheiten. Außerdem sind viele die ersten in ihrer Familie, die überhaupt studieren. Es ist eine großartige Gemeinschaft, die auch akademisch sehr erfolgreich ist. In der Auswertung des akademischen Erfolgs landete Mansfield auf Platz 5 der 39 Colleges in Oxford.

Besonders finde ich auch, was die Gemeinschaft am Mansfield College bereit ist, zu geben, wenn es notwendig ist. Als in Mansfield noch Geistliche ausgebildet wurden, wurde auf dem Campus eine große Kapelle gebaut, die heute noch genutzt wird, obwohl die Ordinationsvorbereitung seit Langem eingestellt wurde. Als die Zahl der Studierenden in Mansfield so stark anstieg, dass die Speisesäle irgendwann nicht mehr groß genug waren, hat das College die Kapelle in einen Speisesaal umgewandelt – ein mutiger Schritt für ein College in Oxford. Allerdings nicht so sehr für ein College, das sehr stolz auf seine nonkonformistische Geschichte und immer bereit ist, die Dinge etwas anders zu machen. Als Seelsorgerin finde ich das irgendwie ermutigend und tröstlich. Jesus hat auch nicht immer nur in der Synagoge gelehrt und gewirkt, sondern oft auch bei Mahlzeiten, die er gemeinsam mit anderen eingenommen hat. Daher finde ich es großartig, dass wir in Mansfield in einer noch voll funktionsfähigen Kapelle zusammen essen können und diesen Raum haben, in dem wir uns behütet fühlen können, während wir einander besser kennenlernen.

Mit der Kanzel, dem Chorgestühl und den vielen Bildern und Symbolen einer Kapelle an den Wänden und der Tatsache, dass die Kapelle auch immer noch als solche benutzt wird, spiegelt dieser Speisesaal die nonkonformistische Geschichte des College wider, an dem die Studierenden sich immer die Frage stellten: „Was braucht unsere Gemeinschaft jetzt gerade? Wie können wir das leisten und bieten, ohne unsere biblische Verwurzelung zu verlieren?“

Konnten Sie während der Coronavirus-Pandemie auf die Bedürfnisse Ihrer Studierenden eingehen?

Mit meinen Studierenden in London vom International Lutheran Student Center feiere ich jeden Abend eine Abendandacht über Zoom. Am Mansfield College haben wir unter der Überschrift „Cause to Pause“ (Ein Grund innezuhalten) einen Internetauftritt der Kapelle erstellt, auf der wir verschiedene virtuelle gemeinschaftliche Veranstaltungen organisieren – zum Beispiel eine Tea-Time für seelisches Wohlbefinden oder ein gemeinschaftlicher Bastelabend über Zoom.

Was mir als Seelsorgerin zu schaffen macht, ist, keinen persönlichen Kontakt mehr zu den Menschen an der Universität zu haben, nicht mehr gemeinsam im Café in der Schlange zu stehen und einfach mal fragen zu können, wie es jemandem geht oder wie die Kurse in der Woche so laufen.  

Als Hochschulseelsorgerin habe ich den Eindruck, dass uns mit diesen organisierten Aktivitäten möglicherweise einiges entgeht, weil sie einen Mindesteinsatz erfordern: man muss sich aktiv für die Teilnahme entscheiden.  Anders ist das bei den persönlichen und zufälligen Begegnungen, bei denen man einfach nur da sein muss, wo man gerade ist.

Und das bringt mich zurück zu dem, was der Beruf der Seelsorgerin für mich bedeutet – einfach bei den Menschen zu sein.

Haben Sie andere Möglichkeiten gefunden, für die Studierenden da zu sein?

Ich versuche es. In den letzten Online-Treffen mit meinen Studierenden in London habe ich festgestellt, dass sie erschöpft und abgespannt wirkten, oder zurückhaltend warteten, ob andere was sagen würden. Sie waren müde.  In der persönlichen Begegnung bin ich eine sehr energiegeladene Frau, und es war schwierig für mich, davon auf diesem Kanal etwas weiterzugeben. Ich habe ihnen daher Hacky Sacks (mit Sand gefüllte kleine Stoffsäckchen, die mit den Beinen oder Füßen in die Luft gekickt werden) in ihre Wohnheime geschickt und dazu eine Notiz: „Dies ist ein Hacky Sack, der euch helfen soll, eure Stimmung und eure Füße zu heben“. Es war ein Versuch, auf andere Weise als über das Internet mit ihnen in Kontakt zu treten und sie etwas aus der Reserve zu locken.

Es ist ganz sicher eine Zeit, in der wir einfach unkonventionell denken müssen. Es ist eine gute Zeit, Lutheranerin zu sein, denn unsere lutherische Identität scheint uns dazu zu ermutigen, innezuhalten und zu überdenken, was wir tun und wie wir es tun. Ich freue mich über die Freiheit, die wir als lutherische Gläubige haben, Dinge hinterfragen zu dürfen.

Was kann die Kirche Ihrer Meinung nach von den vorübergehenden Stilllegungen lernen?

Es eine Zeit, sich grundlegende Gedanken zu machen! Ich hoffe, die vorübergehenden Stilllegungen werden den Laiinnen und Laien helfen, sich ihrer Rolle in der Kirche bewusst zu werden, und mehr auf ihre Teilhabe am „Priestertum aller Gläubigen“ zu vertrauen.  Das könnte ein positives Vermächtnis dieser Pandemie werden.

Wie definieren Sie Ihre lutherische Identität?  

Dienst an unseren Nächsten. Das Evangelium praktisch leben im Bewusstsein, dass Gott uns so sehr liebt, dass er uns durch Jesus Christus alles von sich selbst gegeben hat. Dass wir allein aus Gnade bedingungslos geliebt sind. Gnade ist der Kern dessen, wer wir sind. Und das kann man einfach nicht für sich selbst behalten, es muss überströmen und auf alle Menschen um uns herum übergehen.

Der sonntägliche Kirchgang stärkt uns, ja, aber dabei können wir es nicht belassen. Wir müssen unseren Glauben in unserem Umgang mit unseren Nächsten ganz praktisch leben – das hat uns die Pandemie gezeigt.

Ich erzähle meinen Studierenden oft von den Materialien, die der LWB bereitstellt und die als Gesprächseinstieg hilfreich sein können. Ich benutze diese Materialien – vor allem die zu den Themen Gender- und Klimagerechtigkeit – oft als Gesprächsleitfaden.

Auch das Bonavero-Institut für Menschenrechte der Universität Oxford ist am Mansfiel College angesiedelt und das College erarbeitet gerade einen Grundsatzbeschluss, ein sicheres College für Flüchtlinge zu werden.

 

Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.