Ein Pilgerbrief zum Thema Gastfreundschaft

Flüchtlinge und Vertriebene registrieren Fingerabdrücke zur Feststellung der Personalien. Foto: Creative Commons

Station Menschen – für Geld nicht zu haben

“Mein Glaube lehrt mich, dass Mitgefühl, Barmherzigkeit, Liebe und Gastfreundschaft allen Menschen gelten: dem Einheimischen und der Fremden, der Angehörigen meiner Gemeinschaft und dem neu Angekommenen. Ich werde mir bewusst machen und die Mitglieder meiner Gemeinschaft daran erinnern, dass wir alle irgendwo als „Fremde“ gelten, dass wir den Fremden in unserer Gemeinschaft so begegnen sollten, wie wir wünschen, dass man uns begegnet, und ich werde Intoleranz widersprechen.”

Das ist einer der ersten Absätze im Dokument “Fremde willkommen heissen – Selbstverpflichtungen von Religionsführerinnen und Religionsführern” (hrsg. In 2013), das auf die Initiative des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen, António Guterres, zurückgeht und von mehreren Religionsführerinnen und Religionsführern unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften entworfen wurde.

In allen grossen Weltreligionen findet sich das Prinzip der Gastfreundschaft. Im Christentum bietet die Bibel mehrere Beispiele von Menschen, die gezwungen waren, zu fliehen und nach einer Zuflucht zu suchen. Abraham und Isaak könnten als Wirtschaftsflüchtlinge betrachtet werden: “Es kam aber eine Hungersnot in das Land. Da zog Abram hinab nach Ägypten, dass er sich dort als ein Fremdling aufhielte; denn der Hunger war groß im Lande” (Gen 12:10).” Isaak ist ebenfalls in ein fremdes Land geflohen, um der Hungersnot zu entfliehen: “Es kam aber eine Hungersnot ins Land nach der früheren, die zu Abrahams Zeiten war. Und Isaak zog zu Abimelech, dem König der Philister, nach Gerar” (Gen 26:1).

Jesus Christus selbst wurde schon als Kleinkind zum Flüchtling. Die Geschichte von der Flucht nach Ägypten (siehe die Worte des Engels an Josef in Matthäus 2:13: “Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; den Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen”) ist eine Geschichte von einem politisch Verfolgten, von jemandem, der gezwungen ist zu fliehen, weil er als Gefahr für die herrschende politische Macht betrachtet wird.  

Gastfreundschaft spielt in der biblischen Tradition eine wichtige Rolle. Israel wird in Leviticus daran erinnert, dass er einst selbst ein Fremdling gewesen ist: “Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland“  (Lev 19:33-34). Der Brief an die Hebräer erinnert uns an die Wichtigkeit der Gastfreundschaft: “Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt“ (Heb 13:2).

Jesus Christus bietet uns das wirkungsvollste Bild an, indem er sich selbt mit einem Fremdling identifiziert: “Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen“ (Mt 25:35–36).

Seit der Gründung des Lutherischen Weltbundes (LWB) vor fast 70 Jahren ist Advocacy für und Unterstützung von Flüchtlingen ein zentraler Bestandteil der Mission des LWB.  Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Millionen von Europäerinnen und Europäern umgesiedelt. Jede(r) sechste(r) Lutheraner(in) war damals ein Flüchtling oder Binnenvertriebene(r). Direkt nach dem Ende des Krieges haben sich LutheranerInnen weltweit engagiert, um den Bedürftigen Hilfe zu leisten. Der LWB hält noch immer an dieser Berufung fest, indem er Millionen von Flüchtlingen weltweit unterstützt.

Heute stehen wir wieder einer immensen Flüchtlingskrise gegenüber. Laut UN-Statistik  gibt es zur Zeit weltweit mehr als 60 Millionen Flüchtlinge und Binnenvertriebene. Die Statistik ist vielsagend: während vor 20 Jahren mehr als 80% aller Flüchtlinge infolge von Naturkatastrophen ihre Heimat verloren hatten, flieht heute 80% aller Flüchtlinge  vor bewaffneten Konflikten und Gewalt. Es ist unsere Aufgabe, unsere Herzen nicht vor dem Leiden unserer Nachbarinnen und Nachbarn zu verschliessen, sondern ihnen mit christlicher Liebe zu begegnen, indem wir in jedem, den wir treffen, das Antlitz Gottes erblicken und uns dessen bewusst sind, dass die Würde jedes Menschen untastbar ist.    

Christinnen und Christen sind nicht nur dazu berufen, den Flüchtlingen und den Opfern von Krieg und Gewalt gastfreundlich zu begegnen, sondern sie sind auch aufgerufen,  die Ursachen der erzwungenen Migration zu bekämpfen und sich für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung in der Welt einzusetzen. Der Kampf für Frieden und Gerechtigkeit ist nicht leicht. Es kann sogar so mühsam sein, dass man jeden Mut und Optimismus verlieren kann. Jesus Christus, der heilt und Gerechtigkeit bringt, der all diejenigen, “die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit” als „selig“ bezeichnet (Mt 5:6), ist derjenige, der in diesem Kampf Kraft und Hoffnung geben kann. Er hat inmitten von Ausgrenzung, Hass und Machtkämpfen die Liebe Gottes bezeugt. In Jesus Christus sehen wir, wie die wahre Gerechtigkeit unmittelbar in eine von der Sünde korrumpierte Welt eintritt, und versucht, Heilung und Transformation in diese Welt zu bringen und die gebrochenen Verhältnisse zu erneuern. Der auferstandene Christus bietet Hoffnung für alle, die dabei sind, sie inmitten unserer gespaltenen Welt zu verlieren. Das befreiende Wort Gottes verspricht uns, dass Gebrochenheit, Hass und Angst nicht das letzte Wort haben werden. 

Befreit durch Gottes Gnade, sind wir dazu berufen, Gottes Fähigkeit zu bezeugen, alles neu zu schaffen, und Mitgefühl, Liebe, Gnade und Hunger nach Gerechtigkeit zu verbreiten.  

 

Gebet für Migrantinnen und Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende

Gott, niemand ist dir fremd.
Und niemandist je weit weg von deiner liebenden Fürsorge.

Wache in deiner Güte über Migrantinnen und Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende,

über die, die von ihren Liebsten getrennt sind,

über die, die verloren gegangen sind,

und über die, die ihre Heimat verlassen mussten.

Bring sie sicher an den Ort, den sie suchen

und hilf uns, stets den Fremden und denen, die in Not sind,

deine Freundlichkeit zu zeigen.

Das bitten wir dich, durch Jesus Christus unseren Herrn,

der auch Flüchtling und Migrant war, der in ein anderes Land zog,

um dort eine Heimat zu finden.

Amen