Äthiopien: Schicksale von Flucht und Verlust aus Tigray
LWB und Partner starten humanitäre Hilfsaktionen
MEKELLE/ADDIS ABEBA, Äthiopien/GENF (LWI) – Vom Alltagsleben ins Chaos: Für die Menschen, die von dem aktuellen Konflikt in Äthiopien betroffen sind, war ihr normales Leben mit der Militäroffensive in der Region Tigray von einem Tag zum anderen zu Ende. Aber auch vorher schon hatten viele Menschen die wachsende Spannung zwischen den einzelnen beteiligten Konfliktparteien gespürt.
Der Lutherische Weltbund (LWB) ist mit seiner Abteilung für Weltdienst, die für humanitäre Hilfe zuständig ist, seit 50 Jahren in Äthiopien im Einsatz. Seine Mitgliedskirche, die Äthiopische Evangelische Kirche Mekane Yesus (ÄEKMY), verfügt mit ihrer Entwicklungs- und Sozialdienstekommission (DASSC) ebenfalls über ein diakonisches Werk, das mit der LWB-Abteilung für Weltdienst zusammenarbeitet und Menschen in Not beisteht.
Gemeinsam haben sie eine Bestandsaufnahme der Situation der Binnenvertriebenen in Tigray durchgeführt, um sie besser unterstützen zu können. Zu diesem Zweck haben sie mit Menschen gesprochen, die unmittelbar von dem Konflikt betroffen sind.
Nachdem es aufgrund der fehlenden Zugangsmöglichkeiten für Einsatzkräfte lange Verzögerungen gegeben hat, konnten die LWB-Abteilung für Weltdienst und ÄEKMY-DASSC Anfang Februar erste humanitäre Hilfsaktionen im Süden Tigrays und in Mekelle durchführen. Der LWB wird für Zugang zu Trinkwasser, Sanitärversorgung und Hygiene (WASH) sowie sonstige Hilfsgüter sorgen und ebenfalls in den Bereichen Existenzsicherung, Schutz und Friedensarbeit aktiv sein. Die eigentliche Arbeit erfolgt über die örtlich vorhandenen Infrastrukturen von ÄEKMY-DASSC.
Zuflucht in der Hawultie School in Mekelle
Amanuel Yemane*, 66, wurde in Hayk Mehsel geboren. Nach der Hungersnot Mitte der 80er Jahre wurde er wenig später nach Humera zwangsumgesiedelt und wurde dort Landwirt.
Nach jahrelanger Arbeit auf dem Feld kaufte er Land in Tirkani und begann dort, Sesam und Sorghum anzubauen. Er verdiente damit gutes Geld, denn Sesamsamen aus Humera sind weltweit gefragt als Rohstoff für die Herstellung von Tahine. Hadish konnte auf diese Weise gut für seine sieben Kinder sorgen.
Der Konflikt in Tigray brach mitten in der Erntezeit aus. Yemane hatte seinen Sesam bereits geerntet, aber die Händler in der Stadt lehnten es ab, ihm sein Produkt abzukaufen, und sagten ihm, er solle gehen. Das Sorghum, das noch nicht geerntet war, wurde von Milizen geplündert. Yemane ist davon überzeugt, dass er aufgrund seiner ethnischen Herkunft zur Zielscheibe wurde.
Yemane hat aufgrund dieses Konflikts eine gute Ernte verloren, die mehr als sein jährliches Einkommen als Landwirt eingebracht hätte. Er hat ebenfalls mehrere Ochsen, 25 Ziegen und sein Haus verloren. Für das gesamte Geld im Besitz der Familie waren Felder bestellt und Ställe gekauft worden.
Der Krieg hat die Familie getrennt. Drei der älteren Kinder lebten in Mai Kadra, wo die Miliz am 12. November ein Massaker verübt hat. Kurz vorher gelang den dreien die Flucht in den Sudan.
Yemane und seine vier jüngeren Kinder liefen 560 Kilometer zur Provinzhauptstadt Mekelle. Dieser Fußmarsch dauerte 18 Tage. Sie leben jetzt in der Hawultie School in Mekelle, einem Zufluchtsort für Binnenvertriebene aus dem westlichen Tigray. Hier sind sie von der Großzügigkeit der örtlichen Bevölkerung abhängig, die ihre wenigen Besitztümer mit ihnen teilen. Mehrere Wochen wurde humanitären Hilfsorganisationen der Zugang zur Region Tigray verwehrt. Den Flüchtlingen wurde deshalb nur sehr geringe humanitäre Hilfe zuteil.
Yemane fragt sich, was mit den Binnenvertriebenen geschehen wird, die in acht Schulen in Mekelle und Umgebung untergebracht worden sind, wenn in diesen Schulen wieder der reguläre Unterricht beginnt. Die Schulen wurden aufgrund der COVID-19- Pandemie geschlossen, sollten aber planmäßig wieder im Februar öffnen. Niemand weiß, welche Vorkehrungen hier getroffen wurden, und die Vertriebenen fürchten, dass sie dort nicht bleiben können. Die bereits traumatische Situation, in der sie leben, wird durch diese Ängste weiter erschwert.
Unterkunft in der Ethio-China Friendship School in Mekelle
Saron Abraha*, 30, ist aus Axum geflohen, der Wiege des äthiopisch-orthodoxen Christentums und als die heiligste Stätte in Äthiopien verehrt. Sie und ihr Ehemann Kiflom* haben fünf Kinder; das sechste ist unterwegs. Sie sind aus Axum geflohen, als sie vor zweieinhalb Monaten die ersten Explosionen gehört haben. Seitdem leben sie in einem Flüchtlingszentrum, das in der Ethio-China Friendship School in Mekelle eingerichtet wurde. Das Zentrum ist überbelegt, es fehlt an grundlegenden sanitären Einrichtungen und Diensten.
Abraha ist mit ihrem zwei Jahre alten Kleinkind auf dem Rücken aus Axum geflohen. Ihr Ehemann hat ihren Fünfjährigen getragen. Die anderen Kinder im Alter von 7, 13 und 17 Jahren mussten die 225 Kilometer zu Fuß gehen. Saron berichtet, wie schwierig dieser Marsch war, und dass es unterwegs keine Nahrungsmittel und kein Wasser gab. Manchmal begegneten sie Soldaten, die Mitleid mit ihnen hatten und ihre Rationen mit den Kindern teilten.
Abrahas Familie lebte mit ihrer Mutter und ihrem Schwager in Axum, wurde aber von ihnen getrennt. „Ich weiß nicht einmal, wo sie sind oder ob sie noch leben oder tot sind oder ob unser Haus noch steht. Wir erfahren absolut nichts“, sagte Abraha. „Wir hatten noch Glück, dass wir bereits zu Beginn des Konfliktes geflohen sind. Gott sei Dank haben wir keine Leichen auf der Straße gesehen und auch keine schweren Kämpfe erlebt.“
Gebre Michael Seyoum* 28, ist ein frisch gebackener Ehemann. Er lebte mit seiner Frau Asqual Tewolde, 24, seinem jüngeren Bruder und seinen Eltern in Endaga Arbi in der Nähe von Adwa, einer Stadt mit einer langen und stolzen Geschichte. Er hat einen Bachelor-Abschluss in Sportwissenschaft, musste aber als LKW-Fahrer arbeiten, da es in seiner Stadt keine anderen Jobs gab.
Als der Krieg ausbrach, konnten seine betagten Eltern nicht mit ihm fliehen. Aus diesem Grund traf er die schwierige Entscheidung, sich mit seiner Frau und seinem jüngeren Bruder in Sicherheit zu bringen. Während dieser Tumulte wurde er von seiner Frau und seinem Bruder getrennt. Vor kurzem hat er die Nachricht erhalten, dass sein Bruder angeschossen wurde, weiß aber nicht, ob dieser seine Verletzungen überlebt hat. Er weiß ebenfalls nicht, wo sich seine Frau aufhält und ob seine Eltern in Sicherheit sind oder nicht.
Seyoum war sichtlich aufgewühlt, als er von diesem Leidensweg erzählte. Er erinnerte sich daran, dass er Adwa mit einer Gruppe von 20 Flüchtlingen verließ. Nur acht von ihnen haben es nach Mekelle geschafft. Sie waren vier Tage lang unterwegs, haben auf Bäumen geschlafen und sich vor wilden Tieren und bewaffneten Milizen versteckt. Auf dem Weg nach Mekelle hat Siye zahlreiche Leichen gesehen.
Nach ihrer Ankunft in Mekelle wurden sie von der Sammelstelle der Kesanet School aufgenommen. Als das Zentrum zu voll wurde, erfolgte die Überstellung in die Ethio-China Friendship School. Dort hatte die Regierung ein Zentrum für die Vertriebenen aus der Region Central Tigray eingerichtet.
Seyoum kam etwa vor zweieinhalb Monaten in der Schule an. Die Flüchtlingsaufnahme in der Schule ist gut organisiert, aber es fehlt an wichtigen Utensilien wie Matratzen, Betten, Bettwäsche, Wasser und Hilfsgütern, und es gibt nicht genügend Platz. Mehr als 1.606 Binnenvertriebenen leben in acht Räumen und müssen sich vier Waschbecken teilen. Jeden Tag kommen zusätzliche Flüchtlinge an.
Zum zweiten Mal auf der Flucht
Kidusan Tekle*, 32, und ihr Ehemann Mebratu Haile* haben vor sechs Jahren Eritrea verlassen und in Äthiopien Asyl beantragt. Seit ihrer Ankunft leben sie im Flüchtlingslager Hitsas, wo ihre Kinder Surab, 5, Berhane, 5, und Mariam, 3 Monate, geboren wurden.
Während des Konflikts in Tigray gerieten die Flüchtlingslager in Hitsas und Shimelba unter Granatbeschuss. Wer dabei nicht ums Leben kam, rettete sich aus den Lagern und wurde so zum zweiten Mal zum Flüchtling. Dieser anhaltende Beschuss, der Anblick toter Körper und der Verlust von zwölf nahestehenden Menschen ist ein Trauma, mit dem die Eheleute auch heute noch leben.
Nach der Flucht aus dem Lager gingen sie zunächst zum UNHCR-Büro in Shire, wo sie im Freien und ohne jede Unterstützung auf dem Boden nächtigen mussten. Die Familie beschloss, zu Fuß etwa 245 Kilometer nach Mekelle weiterzugehen. Nach der Ankunft in Mekelle wurden sie von der ÄEKMY-DASSC willkommen geheißen, die die Familie seither in einer Kirche untergebracht hat.
Die Familie wurde weder von der UNHCR noch von der äthiopischen Flüchtlingsverwaltung ARRA registriert, sie sind allein auf die Unterstützung der Kirche angewiesen. Kidusan berichtete, dass sie so traumatisiert von dem seien, was sie gesehen und erlebt haben, dass sie nicht wieder in eines der Lager zurückkehren wollen, wie dies einige andere Flüchtlinge getan haben. Falls sie die Möglichkeit dazu hätten, würden sie am liebsten weiter in Addis Abeba leben.
Die Kirche hat insgesamt elf eritreische Flüchtlingsfamilien und 19 Flüchtlinge ohne Familie aufgenommen. Abgesehen von der Familie Kidusan sind alle ihrer Wege gegangen. Einige versuchen ihr Glück in Addis Abeba, andere haben sich ins Flüchtlingslager Mai Aïyni begeben, wieder andere sind einfach verschwunden. Die Flüchtlinge sind ohne zuverlässige Nachrichten aus ihrer Heimat. Kidusan geht davon aus, dass zu Beginn des Konfliktes Tausende Menschen aus den Lagern geflüchtet sind.
Wasser, Sanitärversorgung und Friedensarbeit
Der LWB hat für den Zugang zu Trinkwasser, Sanitärversorgung und Hygiene (WASH) sowie sonstigen Hilfsgütern gesorgt und ist ebenfalls in den Bereichen Existenzsicherung, Schutz und Friedensarbeit aktiv. Ein Teil der LWB-Nothilfe wird durch das Äthiopienforum des ACT-Bündnisses und in enger partnerschaftlicher Abstimmung mit anderen glaubensgestützten und ökumenischen Partnern koordiniert
Gemeinsam wollen die Partner mehr als 250.000 von dem Konflikt in Tigray und den angrenzenden Provinzen Amhara, Afar und Konso betroffene Menschen unterstützen. Der Einsatz soll etwa ein Jahr dauern.
*Alle Namen wurden zum Schutz der betroffenen Personen geändert
Von LWB/S. Gebreyes, Redaktion: LWB/C.Kästner. Deutsche Übersetzung: Detlef Höffken, Redaktion: LWB/A. Weyermüller
Die LWB-Hilfsaktionen in Tigray werden durch die Unterstützung des ACT-Bündnisses, der Church of Sweden/SIDA, des Australischen Lutherischen Weltdienstes und ECHO/ERM ermöglicht. Der LWB plant die Bereitstellung von Nahrungsmitteln oder Cash-Karten für Lebensmittelkäufe und von Hilfsgütern, psychosoziale Unterstützung, Schutz und eine grundlegende Wasser- und Sanitärversorgung.