Venezuela: Hoffnung bewahren – trotz Not

Teilnehmerinnen an einem Näh-Workshop für Mütter und andere Gemeindemitglieder im von IELV betriebenen "Haus der Freundschaft". Hier wird alles von Hand gemacht, denn eine Nähmaschine ist unbezahlbar. Fotos: IELV/Judith Bracho Villegas

Lutherische Kirche bietet sicheren Ort und alternative Einkommensquellen

VALENCIA, Venezuela /GENF (LWI) – Seit drei Monaten hat sich Laylas (Name geändert) Tagesablauf völlig verändert. Als erstes bringt sie morgens ihre fünfjährige Tochter in die Kindertageseinrichtung im „Casa de la Amistad (Haus der Freundschaft) in der nordvenezulanischen Stadt Valencia. Dann trifft sie sich im gleichen Gebäude mit einer Gruppe von Frauen für einen Workshop, den die Evangelisch-Lutherische Kirche in Venezuela (IELV) organisiert.

Am heutigen Tag wird Layla ihr erstes Paar handgefertigte Hausschuhe fertigstellen. Das ist nur eines der Produkte, die die Teilnehmenden in den Workshops herstellen. Alles wird hier von Hand gefertigt. Junge Mütter wie Layla und ältere Frauen nähen kleine Handtaschen, Umhänge- und Einkaufstaschen, sie schneiden Blumenschmuck aus, stellen Tischdecken und verschiedene andere Dinge her. Die Leitenden der Workshops bringen ihnen bei, wie sie von Hand ganz professionell nähen können, denn die meisten Teilnehmenden haben keine Nähmaschine und auch nicht die finanziellen Mittel, um sich eine anzuschaffen.

Die verschiedenen Workshops zur Herstellung von Kunsthandwerk und Backwaren gehören zu einem Projekt der IELV, mit dem diese seit 2016 ihr Engagement in Mission und Diakonie stärken will. Ziel des Projektes ist es, Menschen, die gesellschaftlich und finanziell ausgegrenzt sind, Einkommensmöglichkeiten aufzuzeigen, und die vielen Ortsgemeinden zu unterstützen, die ums Überleben kämpfen. Der Lutherische Weltbund (LWB) unterstützt das Projekt seit 2018. „Die Solidarität ist gerade angesichts der nach wie vor ungelösten politischen Krise in Venezuela, zu der nun noch die Corona-Pandemie hinzukommt, noch viel wichtiger als früher“, sagt die Projektkoordinatorin Judith Bracho Villegas.

Totale sozioökonomische Vulnerabilität

Bracho erklärt, die seit 1997 anhaltende politische Krise „hat zu seiner Situation der totalen sozio-ökonomischen Vulnerabilität von Familien in Venezuela geführt“. Die Zahl der Menschen, die auf die humanitäre Hilfe der Kirche angewiesen sind, „steigt von Tag zu Tag, und auch unsere Gemeindemitglieder und Mitarbeitenden sind betroffen. Daher müssen wir uns immer wieder neue kreative Lösungen überlegen, wie wir auf die dringendsten und gleichzeitig grundlegendsten Bedürfnisse der Menschen eingehen können, und unsere Hilfsangebote anpassen“, führt sie aus.

Unter Verweis auf Statistiken von R4V, einer regionalen Plattform, die den Status von Migrierenden und Flüchtlingen aus Venezuela verwaltet, erklärt Bracho, dass Anfang April rund fünf Millionen Venezolaner und Venezolanerinnen als Migrierende und Flüchtlinge registriert waren – überwiegend in den direkten Nachbarländern. „Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme hier betreffen aber mehr als 90 Prozent der Gesamtbevölkerung von 28 Millionen Menschen. Natürlich sind einige mehr betroffen als andere, aber eigentlich sind wir alle betroffen, und unsere Lebensqualität hat sich in den letzten Jahren in rasantem Tempo verschlechtert.“

Die IELV-Projektkoordinatorin verweist auf die jüngsten Berichte von Parlamentsausschüssen und anderen staatlichen Quellen, die die Auswirkungen deutlich zeigen: Ende 2019 hatte die kumulierte Hyperinflation 7.374 Prozent erreicht, die Schulabbrecherquote lag bei 87 Prozent und die öffentliche Daseinsvorsorge, einschließlich der Bereitstellung von Trinkwasser- und Gesundheitsversorgung, war unzulänglich oder gar nicht vorhanden. Nur 23 Prozent der Bevölkerung habe aktuell Zugang zu fließend Wasser. „Wo ich lebe, gibt es nur zwei Mal in der Woche Wasser“, erzählt sie.

COVID-19 verschlimmert die schwere humanitäre Krise

Durch die Corona-Krise fürchtet Bracho, wie viele andere Menschen im Land, dass eine „noch schlimmere Gesundheitskrise“ bevorsteht, weil die Menschen und Institutionen nicht in der Lage seien, Maßnahmen umzusetzen, die die Ausbreitung des Virus verlangsamen würden. Bis zum 15. April gab es laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Venezuela 181 bestätigte COVID-19-Fälle und neun Tote.

Die öffentlichen Krankenhäuser würden kaum in der Lage sein, mit einer weiteren Krise fertig zu werden. Es fehle an Ausrüstung und Material, auch an Medikamenten, regelmäßiger Versorgung mit Wasser und Elektrizität. Die sehr niedrigen Gehälter für medizinisches und Klinikpersonal – rund USD 10 im Monat – führten dazu, dass es in den staatlichen Einrichtungen immer weniger Ärztinnen und Ärzte und Pflegepersonal gebe. Für die vielen engagierten medizinischen Fachkräfte, die trotz der schlechten Arbeitsbedingungen weiterhin dort tätig sind, ist die IELV-Projektkoordinatorin hingegen voll des Lobes.

Sie begrüßt die Regierungsverordnung vom 19. März, die die Menschen aufruft, zu Hause zu bleiben. Außerdem sieht sie die Schließung von Bildungseinrichtungen und allen Unternehmen außer Lebensmittelhändlern oder Gesundheitseinrichtungen sowie die Schließung der internationalen Grenzen des Landes vor, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen. Aber Bracho sagt auch, dass die Umsetzung derartiger Maßnahmen in einem Land, in dem fast niemand so viel Geld verdient, dass er oder sie für mehrere Tage einkaufen kann, „sehr schwierig“ sei. „Die Menschen müssen jeden Tag raus, um Nahrungsmittel und andere Güter der allgemeinen Grundversorgung zu kaufen, und schon das können sie kaum bezahlen.“

Zudem mache auch der konstante Kraftstoffmangel alles noch viel komplizierter, erklärt Bracho weiter. Die Produktion und Verteilung von Lebensmitteln, die schon durch die sozio-ökonomische Krise beeinträchtigt waren, „sind jetzt völlig lahmgelegt“. Für die Menschen in den Städten fehle es an Obst, Gemüse, Fleisch und Milchprodukten, denn die Erzeugerinnen und Erzeuger landwirtschaftlicher Produkte können ihre Produkte einfach nicht in die Städte bringen.

Sorge um das Kinderheim

Die Corona-Pandemie verschlimmert die sowieso schon angespannte Lage weiter. Bracho macht sich insbesondere um das Fortbestehen von „Liebe, Glaube und Hoffnung“ Sorgen, einem Heim für alleingelassene Kinder und Straßenkinder, das die Kirche seit 1993 unterhält. Die Zukunft der 18 dort lebenden Kinder und der sieben erwachsenen Betreuerinnen und Betreuer hängt vollständig von der venezolanischen lutherischen Kirche und der Unterstützung wie Lebensmittelspenden ab, die diese von ihren Partnern erhält. Mit der diakonischen Arbeit der Kirche werden noch weitere 150 bedürftige Menschen unterstützt, darunter Gemeindemitglieder in der venezolanischen Hauptstadt Caracas, in Barquisimeto, Puerto Cabello und Turén.

Trotz der vielen Herausforderungen und Probleme will sich Bracho aber auf die langfristigen Wirkungen der Arbeit der IELV konzentrieren. Durch den Kindergarten und die Kunsthandwerk-Workshops „kann die Kirche den Menschen nicht nur lebenspraktische Fertigkeiten vermitteln, sondern auch die emotionale und spirituelle Unterstützung anbieten, die so viele Menschen und ganze Gemeinwesen in diesem Land brauchen“, führt sie aus. Frauen wie Layla können ihre Kinder an einem sicheren Ort in Betreuung geben und die Fertigkeiten, die sie sich in den Workshops aneignen, sind eine Investition für das eigene Überleben.

Sie schöpfe Kraft aus der Unterstützung und den Gebeten der weltweiten lutherischen Gemeinschaft und sei überzeugt, dass sich die Dinge in Venezuela zum Besseren entwickeln werden. „Hier und jetzt will ich sein. Ich will hier sein, wenn sich die Situation verbessert, damit wir alle dann gemeinsam beginnen können, dieses Land wiederaufzubauen“, sagt Bracho abschließend.