Ukraine: „Eine Prüfung unseres Glaubens – in Worten und Taten“

11. März: Aus der Ukraine geflüchtete Familien auf dem Weg zum Bus, der sie an den slowakisch-ukrainischen Grenzübergang Vyšné Nemecké und weiter ins Innere der Slowakei bringen soll. Der Grenzübergang Vyšné Nemecké verbindet die Slowakei mit der Stadt Uschgorod in der Ukraine. Am Grenzübergang kommen täglich Zehntausende Geflüchteter an, seit der russische Angriff auf die Ukraine begonnen hat. Zahlreiche glaubensbasierte, zivilgesellschaftliche und humanitäre Organisationen bieten den Geflüchteten bei ihrer Ankunft sofortige Unterstützung an. Fotos: LWB/Albin Hillert

LWB-Mitgliedskirche in der Slowakei nimmt Geflüchtete aus der Ukraine auf

VYSNE NEMECKE, Slowakei/GENF (LWI) – Da täglich Tausende Geflüchteter aus der Ukraine in das Land kommen, nimmt die Evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in der Slowakischen Republik diejenigen, die Hilfe brauchen, in Empfang.

Laut den Zahlen des UN-Flüchtlingswerks hatten bis zum 13. März bereits mehr als 200.000 Menschen auf ihrer Flucht die ukrainische Grenze zur Slowakei überschritten. Am größten ukrainisch-slowakischen Grenzübergang, Vyšné Nemecké, erwartete sie eine ganze Reihe von Nothilfe-Maßnahmen – zur Deckung der grundlegenden Bedürfnisse wie warme Getränke, Suppe, Hygieneartikel, Kleidung, warme Zelte, in denen sie einen Moment der Erholung finden konnten, und Freiwillige, die sich bemühten, die Geflüchteten auf Unterkünfte in der gesamten Slowakei zu verteilen.

 

Ein Freiwilliger versorgt eine Flüchtlingsfamilie, die gerade in Vyšné Nemecké angekommen ist.

Patrick Purchart ist einer von Dutzenden Freiwilligen, die im Zelt der Lutherischen Diakonie in Vyšné Nemecké Dienst tun – in 12-Stunden-Wechselschichten Tag und Nacht. Hier können Geflüchtete einen Platz zum Ausruhen und Aufwärmen finden, etwas Warmes zu trinken und jemanden, der sie in der „Zeltstadt“ aus Versorgungsstationen herumführt, die um den Grenzübergang herum entstanden ist.

„Die Situation ist ziemlich verzweifelt“, erklärt Purchart. „Wir sehen, wie Leute ankommen, die gerade vor den Bomben geflohen sind und manchmal nicht einmal ein zweites Paar Unterwäsche dabeihaben.“

Er fährt fort: „Gestern habe ich einem kleinen Mädchen geholfen. Sie konnte ihre Mutter nicht finden und fragte mich: ‚Wo ist meine Mutter?‘ Die zweite Frage war: ‚Lebt sie?‘“

 

Maria Bychko auch Charkiw kam mit ihrem sechs Monate alten Kind am Grenzübergang in Vyšné Nemecké an. Sie sagt, es sei schrecklich gewesen, ins Exil zu gehen und die Welt, die sie gekannt habe, zurückzulassen, aber ihre Heimatstadt werde von den Bomben zerstört und sie sei weggegangen, weil sie Angst um ihr Kind habe.

Bei Soforthilfemaßnahmen bestehe immer die Gefahr einer mangelnden Koordinierung, worüber direkt am Anfang in Vyšné Nemecké gesprochen worden sei, erklärt Purchart. „Alle versuchen, etwas zu tun, und es ist in dieser Situation äußerst wichtig, dass wir die Arbeit nicht doppelt machen. Es sollte egal sein, welcher Name auf der Verpackung steht. Aber es ist wichtig, dass die Geflüchteten etwas zu essen bekommen.“ Purchart erklärt, dass jedes Zelt versuche, etwas anderes anzubieten.

 

Eine Familie isst Suppe am Grenzübergang Vyšné Nemecké zwischen der Slowakei und der Ukraine.

Das Evangelium leben – mit offenen Armen, Wohnungen und Kirchen

In der lutherischen Kirche in Partizánska Ľupča gibt es eine kleine Kirchengemeinde mit einer langen Geschichte. Sie hat auf die Notsituation der Geflüchteten reagiert, indem sie Geldspenden sammelte, im jahrhundertealten Pfarrhaus Unterkünfte zur Verfügung stellte und die Geflüchteten in den Wohnungen der Mitglieder der Kirchengemeinde aufnahm.

Bei einer Gemeindegröße von 150 Migliedern hat die Kirchengemeinde mittlerweile 82 ukrainische Geflüchtete aufgenommen – 22 von ihnen wurden neben dem Pfarrhaus untergebracht und weitere 60 in Wohnungen von Gemeindemitgliedern.

 

Pastor Jan Molcan von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Partizánska Ľupča schaut ukrainischen Flüchtlingskindern beim Spielen in ihrer Wohnung in der Gemeinde zu.

„Diese Zeit ist eine Prüfung unseres Glaubens, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten“, sagt der örtliche Pastor Jan Molcan. „Die Menschen in meiner Kirchengemeinde sind sehr bodenständig. Vielleicht sind sie nicht sehr bibelfest, aber sie verstehen die Bedeutung des Evangeliums. Sie helfen, ohne zu fragen.“

Durch die Ankunft der Geflüchteten trafen in der Kirche verschiedene Glaubenstraditionen überraschend aufeinander.

„Einige der Geflüchteten kamen am Sonntag in die Kirche und brachten eine Ikone mit, da sie orthodox sind. Ich habe die Ikone auf den Altar gestellt und gesagt: ‚Herzlich willkommen, dies ist jetzt auch eure Kirche.“ Inzwischen haben wir die Ikone auf das Taufbecken gestellt. So können sie sich davor niederknien, wenn sie in die Kirche kommen. Außerdem sind wir in der Taufe alle eine Familie“, so Molcan.

 

Eine orthodoxe Ikone steht auf dem Taufbecken in der evangelisch-lutherischen Kirche in Partizánska Ľupča. Die Ikone wurde von ukrainischen Geflüchteten, die bei Familien der Kirchengemeinde untergebracht sind, in die Kirche gebracht. Der örtliche Pastor stellte sie auf das Taufbecken als Zeichen der Gastfreundschaft gegenüber den Geflüchteten und als ein Symbol dafür, dass „wir in der Taufe alle eine Familie sind.“

„Wir haben nie geglaubt, dass es zum Krieg kommt“

In der lutherischen Kirche in Poprad hat eine Familie mit Kindern mit Behinderungen eine Unterkunft gefunden.

Mit der Unterstützung durch das Rote Kreuz konnte Tatiana (Tanya) Radchuk zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter aus Bila Tserkva fliehen.

„Ich habe immer gesagt ‚es kann unmöglich Krieg geben‘ und mein Mann sagte nur ‚du wirst schon sehen, es kann passieren‘“, sagt Radchuk. „Wir waren eine gemischte Stadt aus Russen und Ukrainern. Es gab keine Probleme, wir waren einfach Freunde und lebten zusammen. Wir waren wie Brüder und Schwestern.“

 

Die zwanzigjährige Anna Radchuk (Mitte links) zusammen mit ihrem Vater Misha (links), ihrer Mutter Tatiana (rechts) und ihrem 34-jährigen Freund Andrej (Mitte rechts) in ihrer Unterkunft in Poprad.

„Bei der ersten Explosion, als die Rakete einschlug, dachte ich mir nichts dabei. Aber bei der zweiten schaute ich raus, was los war. Bei der dritten wurde mir klar ‚oh mein Gott, sie bombardieren uns‘. Die Kinder fragen nun, wann wir nach Hause gehen können und ob sie uns töten, wenn wir nach Hause gehen.“

Für Jana Kovalcikova, Geschäftsführerin eines Jugendzentrums in dem nahegelegenen Veľký Slavkov, in dem nun über 30 Geflüchtete untergebracht sind, ist die Nothilfe durch die örtlichen Gemeinden in der Gegend ein Wunder.

„Unsere Freunde und unsere Gemeinden reagieren sehr schnell und direkt. Wir brauchten eine Waschmaschine, einige Hygieneartikel, und sie brachten sie uns. Jemand konnte für uns einkaufen. Es ist wie ein Wunder, da wir nun für sie kochen und sie mit dem versorgen können, was sie brauchen“, sagt Kovalcikova.

 

Der zehnjährige Volodymyr aus der Ukraine spielt Tischtennis mit dem in der Slowakei geborenen Pastor Drahus Oslik in dem umgenutzten Jugendzentrum in Veľký Slavkov.

Den „lebendigen Christus“ in den Gesichtern der Geflüchteten sehen

Und für den Bischof des östlichen Bezirks, Peter Mihoc, dessen Büro die Unterbringung der Geflüchteten in den Kirchengemeinden im ganzen Land koordiniert, steht der Schwerpunkt der diesjährigen Passionszeit fest.

„In der diesjährigen Passionszeit wird es darum gehen, Hilfsbedürftigen zu helfen. Einige tun das bereits: Sie verteilen an der Grenze warmen Tee, stehen mitten in der Nacht auf, um Menschen an der Grenze abzuholen und zu fahren, oder sie öffnen die Türen zu ihren eigenen Wohnungen“, sagte der Bischof bei seiner Predigt am 13. März vor der Kirchengemeinde in Pozdišovce.

 

Bischof Peter Mihoc von der Evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in der Slowakei (östlicher Bezirk) betet für die Ukraine während des Sonntagsgottesdienstes in Pozdišovce, Slowakei. Pozdišovce liegt von allen Kirchen der Kirchengemeinde am nächsten an der ukrainischen Grenze. Daher hat die Kirche hier eine besonders wichtige Aufgabe bei der Unterstützung der ankommenden Geflüchteten, die vor dem Krieg in der Ukraine in die Slowakei fliehen.

Er kam noch einmal darauf zurück und stellte in Bezug auf die am weitesten im Osten liegende Gemeinde seiner Kirche fest: „Wir sehen in die Gesichter der Geflüchteten aus der Ukraine und sehen den lebendigen Christus. Wir sehen den leidenden Christus, der sie aufgrund des Hochmutes derjenigen, die hinter diesen Angriffen stehen, auf ihrem Weg begleitet hat. In dieser Zeit müssen wir das Kreuz nicht nur auf unserer Brust als Zeichen dafür, dass wir Christen sind, tragen, sondern auch auf unserem Rücken, um die Last derjenigen zu tragen, die leiden.“

Von Albin Hillert. Deutsche Übersetzung: Tonello-Netzwerk, Reaktion: LWB/A. Weyermüller