Spiritualität ist Herzstück lutherischer Identität

Foto: LWB/Albin Hillert

Viertes „Being Lutheran“-Webinar beleuchtet Spiritualität im aktuellen kirchlichen Leben und Gottesdienst

GENF (LWI) – Wie erfahren wir in unserem Alltag den Heiligen Geist? Welche Fragen wirft die Corona-Pandemie im Blick auf unser Verständnis von Spiritualität und sakramentalem Leben auf? Wie kann uns Luthers ureigene Lehre von der Gnade und vom christlichen Leben dabei helfen, die grundlegende Bedeutung des Geistes für das Verständnis der lutherischen Identität in den vielfältigen ethnischen und kulturellen Kontexten neu zu erschließen?

Mit diesen Fragen befasste sich am 7. Oktober ein Webinar des Lutherischen Weltbundes (LWB), an dem sich die finnische Pfarrerin und Professorin Dr. Kirsi Stjerna als Referentin beteiligte. Stjerna hat am Pacific Lutheran Theological Seminary in Berkeley (Kalifornien, USA) den Lehrstuhl für Lutherische Geschichte und Theologie inne. Das Webinar, an dem Interessierte aus aller Welt teilnahmen, ist das vierte in der monatlichen „Being Lutheran“-Reihe, die im Rahmen des laufenden Studienprozesses zu lutherischen Identitäten in der Welt von heute angeboten wird.

Stjerna stellte fest, sie nehme in dem nordamerikanischen Kontext, in dem sie lehre, ein großes „hermeneutisches Misstrauen gegenüber dem Begriff Spiritualität“ wahr, dessen Seriosität im Vergleich zur exegetischen und dogmatischen Forschung vielfach in Zweifel gezogen werde. Dem stellte sie ihre eigene Kindheitserfahrung in Finnland gegenüber, wo Spiritualität schlicht bedeutete, „sich des Geistes in uns und um uns her, insbesondere in der Natur und in der Gemeinschaft, in der die Sakramente gefeiert werden, bewusst zu sein.“

Luther neu gelesen

In der lutherischen Theologie könne, so Stjerna weiter, der Eindruck entstehen, „Heiliger Geist und Spiritualität seien auf der Strecke geblieben“, obwohl diese doch bis heute Teil des täglichen Lebens lutherischer Gläubiger an der Basis sei. Die finnische Theologie habe hier einen wichtigen Beitrag geleistet, indem sie „nicht nur Luthers theologische Arbeit aus der Perspektive der Spiritualität beleuchtet, sondern auch verwiesen hat auf den grundlegenden Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und Spiritualität.“

Ein unverstellter Blick auf Luthers Verständnis und Erfahrung von Rechtfertigung könne, so betonte die Professorin, neue Wertschätzung eröffnen für „Luthers ureigene, aus dem Glauben gespeiste Rede von der Gnade und vom christlichen Leben“. Setze man sich mit seiner Glaubenserfahrung und -praxis auseinander, so sei dies „ein wichtiger Schritt darauf hin, uns die Spiritualität als für Lutheranerinnen und Lutheraner relevanten Begriff neu zu eigen zu machen“, und habe auch große Bedeutung für die ökumenischen Beziehungen.

Luthers Werke aus dieser neuen Perspektive zu lesen, bedeutet nach Stjernas Ansicht eine Rückkehr zu den Wurzeln der Reformation und ihrem Ruf nach einer Kirche, die den Menschen die rechte körperliche wie geistliche Nahrung biete. Luthers „eine tiefgreifende Veränderung bewirkende Gnadenerfahrung“ zu verstehen, befähige uns dazu, seine reformatorischen Erkenntnisse neben ihren theologischen, praktischen und politischen Implikationen „zuvorderst als spirituell-biblische Entdeckungen“ wahrzunehmen.

Befreiung durch feministische Theologie

Im Blick auf den wichtigen Beitrag der feministischen Theologie zur Neubewertung der Rolle des Geistes durch die moderne lutherische Forschung verwies Stjerna auf die Spiritualität mittelalterlicher Mystikerinnen wie Birgitta von Schweden, Juliana von Norwich und Hildegard von Bingen. Die Wiederentdeckung dieser Vorbilder für die feministische Spiritualität dieser Formen feministischer Spiritualität ist laut Stjerna eine der Triebfedern für die Entwicklung einer „lutherischen Praxis der Spiritualität und liturgischer Ausdrucksformen des Glaubens“.

Die feministische Theologie und Spiritualität hätten die Kirche zudem dazu befreit, „sich für Vielfalt zu öffnen und vieldimensionaler“ zu werden, „wodurch das Gegeneinander von Leib und Geist überwunden und sichergestellt werden kann, dass Einzelne und Gruppen gestärkt und verwandelt werden“, führte Stjerna aus. Nicht zuletzt hätte der feministische Ansatz im lutherischen Kontext auch die Bedeutung der „Fürsorge für die Erde als wesentliches Element [unserer] spirituellen Orientierung auf das Leben hin“ in den Fokus gerückt.

Die Theologiestudentin Novrianna Hutagalung von der Protestantisch-Christlichen Batak-Kirche (HKBP) in Indonesien verwies auf die Gegenwart des Geistes in liturgischen Riten und schlug den Bogen zur traditionellen Trauerkultur als Mittel der Traumaheilung: Werde Trauer durch Musik und Tanz zum Ausdruck gebracht, könne dies eine Möglichkeit eröffnen, „eine Gnade des Heiligen Geistes“ zu erfahren. Werde wahrgenommen, dass „der Geist mit uns trauert“, so Hutagalung weiter, könnten wir akzeptieren, dass solche „Wunden immer ihre Spuren hinterlassen“, was einen entscheidenden Schritt im Heilungs- und Verarbeitungsprozess darstelle.

Spiritualität für die Gegenwart

Der Moderator des Webinars, Pfr. Dr. Chad Rimmer, Programmreferent für Identität, Gemeinschaft und Bildung beim LWB, stellte fest: „Viele Facetten des Unrechts, denen wir heute begegnen, haben spirituelle Ursachen. Die Klimakrise, der Vormarsch des Ethnonationalismus, die Gegenreaktion gegen die Gleichberechtigung von Frauen sind Folgen eines binären bzw. dualistischen Denkens, das Leib und Geist, Mensch und Natur, Mann und Frau, Hautfarben und Völker gegeneinander abgrenzt. Wenn wir als Christinnen und Christen jedoch von Spiritualität sprechen, dann sprechen wir darüber, dass unsere ganze Person und Gemeinschaft in Gottes Geist wiederhergestellt wird.“

Rimmer führte weiter aus: „Die lutherische Tradition ist ein dynamischer, aktiver, lebendiger Glaube, der uns dazu motiviert, auf die Nöte unserer Zeit zu reagieren. Wenn wir von ‚Spiritualitäten‘ der Gewaltlosigkeit, der Arbeit, der Ernährung, der Sexualität oder auch von Ökospiritualität sprechen, dann heißt das, dass diese vom Glauben geprägte Praxis des Alltags in Gottes Geist wurzelt. Luther hat betont, dass es beim Glauben nicht nur um eine Überzeugung im rationalen oder emotionalen Sinn geht. Der Glaube ist Christi Gegenwart, die in uns wirkt. Unsere Praxis des Gebets, der Musik, der Sakramente, der theologischen Reflexion oder der gemeinsamen Bibellese verwurzelt also alle unsere ‚Spiritualitäten‘ im Geist Gottes, der das Angesicht der Erde fortwährend erneuert.“

Die Teilnehmenden tauschten sich auch über die mit der Corona-Pandemie einhergehenden Probleme bei der Aufrechterhaltung bestimmter Aspekte der spirituellen Praxis aus, etwa des gemeinsamen Abendmahls sowie des miteinander Singens oder Betens. Rimmer erklärte dazu: „Unsere Gemeinschaft mit Gott wird vermittelt durch unsere Worte, die Verwendung von Wasser, das Miteinanderteilen von Brot und Wein.“ Viele Menschen erlebten also auf dem sicheren Weg der Online-Begegnungen Gemeinschaft, „wir hingegen fragen uns, ist das eine ‚virtuelle‘ Gemeinschaft oder eine ‚reale‘ Gemeinschaft, die digital vermittelt wird? Das sind die neuen Fragen unserer Zeit. Aber wir stellen uns ihnen gemeinsam in dem Wissen, dass uns ein und derselbe Geist durch die Taufe eint. Diese zeitlose Quelle der christlichen Spiritualität rüstet uns zu für unsere Gegenwart.“