Religiöser Nationalismus: Ignorieren oder Widerstand leisten?

Die Teilnehmenden an der Podiumsdiskussion über globale Antworten auf religiösen Nationalismus (im Uhrzeigersinn von oben links): ELKA-Pastorin, Pfarrerin Angela Denker, Diskussionsleiter Dr. Sivin Kit vom LWB, Dr. Sathianathan Clarke vom Wesley Theological Seminary und Dr. Dicky Sofjan von ICRS. Foto: Screenshot des Webinars

GENF, Schweiz

Webinar des LWB zur Politisierung von Religion

(LWI) – Wie können gläubige Menschen auf den zunehmenden religiösen Nationalismus reagieren? Wie sollten wir reagieren, wenn Politikerinnen und Politiker religiöse Symbole instrumentalisieren, um die eigenen ausgrenzenden Werte und Visionen zu bewerben? Wie kann religionsübergreifendes Engagement säkulare Gruppen dabei unterstützen, eine gerechtere, inklusivere und solidarischere Gesellschaft zu bewahren?

Diese Fragen standen im Zentrum eines Webinars zum Thema „Ignore, Resist or Engage? Global responses to religious nationalism“ (Ignorieren, Widerstand leisten, sich engagieren? Globale Antworten auf religiösen Nationalismus), das der Lutherische Weltbund (LWB) am 22. September durchgeführt hat.

Die Online-Diskussion, an der Referentinnen und Referenten aus Indien, Indonesien und den USA teilnahmen, hatte der LWB zusammen mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika (ELKA) und der indonesischen Arbeitsgemeinschaft für religiöse Studien (Indonesian Consortium for Religious Studies, ICRS) organisiert.

Interreligiöses Engagement im öffentlichen Raum

Dr. Sathianathan Clarke, Professor für weltweites Christentum am Wesley Theological Seminary in Washington D.C., sprach über die beunruhigende „Vereinnahmung des Nationalstaates durch gewaltbereite fundamentalistische Religionen“. Diese würden all jene verfolgen, die als „Bedrohung für die religiösen, rassischen oder sexuellen Ideale der machthabenden Mehrheit“ wahrgenommen werden. Das liege daran, sagte Clarke, dass christliche, hinduistische, jüdische, buddhistische und muslimische Extremistinnen und Extremisten „anerkannte öffentliche Plattformen brauchen, um ihre heiligen Überzeugungen in ganz alltägliche Praktiken übersetzen“ und „das alltägliche Leben in der realen Welt prägen und gestalten zu können“.

In seinem Heimatland Indien sei gerade sehr offensichtlich, dass die hinduistischen nationalistischen Kräfte „darum bemüht sind, den säkularen Charakter der Verfassung zu zerstören“, die derzeit allle Religionen und Volksgruppen schützt. Vor diesem Hintergrund sei die für alle Religionen geltende Tradition und Praxis, „in der Sicherheit und Geborgenheit unserer heiligen Orte“ als Gemeinschaften beten zu können, nicht ausreichend, um einen derartigen Aufstieg des Fundamentalismus zu bekämpfen, erklärte er weiter. Gläubige Menschen müssten aus ihren „bequemen religiösen Blasen“ ausbrechen und sich für umfassenderes „interreligiöses Engagement im öffentlichen Raum“ einsetzen.

Der muslimische Politikwissenschafter, Forscher und Mitglied des Lehrkörpers der ICRS, Dr. Dicky Sofjan, brachte eine andere, indonesisch geprägte Sichtweise in die Diskussion ein. Er sagte, Nationalismus würde in seiner Heimat nicht als ein so extremer Standpunkt verstanden, wie es in westlichen Gesellschaften der Fall sei. Während viele Länder besorgt darüber seien, dass Religion wieder vom privaten in den öffentlichen Raum trete, gehe die viel größere Bedrohung in Indonesien von einer transnationalen religiösen Bewegung aus, die fundamentalistische Ideologien aus dem Ausland nach Indonesien importiere und dort durchzusetzen versuche.

Sofjan sagte, dass die fünf Grundprinzipien des indonesischen Staates und seiner Verfassung – auch bekannt unter dem Begriff Pancasila – „einen religiösen Nationalismus anstreben, der offen und tolerant ist und den kulturellen Pluralismus und multireligiösen Charakter unseres Landes uneingeschränkt anerkennt“. Im Streben nach Harmonie unter den hunderten verschiedenen ethnischen Gruppen und Sprachgruppen würde Nationalismus als „goldener Mittelweg“ verstanden, erklärte er, und der Islam habe immer eine „Lehre der Einheit von Religion und Politik“ gefördert.

Das Säkulare als das neue Heilige

In den USA habe der „christliche Nationalismus das Evangelium politisiert und verfälscht“, um das Narrativ von „Amerika als das neue Heilige Land“ voranzubringen, so die lutherische Pfarrerin und Journalistin Angela Denker. Denker ist Autorin des Buches „Red State Christians: Understanding the Voters who elected Donald Trump“ (etwa: Christinnen und Christen in republikanisch geprägten Staaten: Die Wählerinnen und Wähler verstehen, die Donald Trump gewählt haben) und sprach auch über den großen Einfluss, den die sozialen Medien beim Verbreiten von irreführenden Botschaften und Verschwörungstheorien haben. Die Zahl der Menschen, die den Institutionen – darunter den christlichen Kirchen – nicht mehr vertrauen, habe neue Rekordwerte erreicht .

Als Moderator der Online-Diskussion stellte Pfr. Dr. Sivin Kit, LWB-Programmreferent für Öffentliche Theologie und Interreligiöse Beziehungen, die Frage, was Menschen, die sich ganz konkret interreligiös engagieren, tun können, um vor dem Hintergrund dieser zunehmenden Polarisierung gemeinsam Frieden zu schaffen. Dr. Clarke betonte, wie wichtig es sei, „die Geborgenheit unserer eigenen Sprachen und unserer gewohnten Orte zu verlassen“, um uns „das Säkulare als das neue Heilige, die Straße als den neuen Tempel vorstellen zu können“, in dem Gläubige das Florieren menschlichen Lebens „schützen, fördern und erhalten können“.

Dr. Sofjan berichtete über die Arbeit, die die ICRS durch das Programm zur Schaffung von Religionskompetenz leiste, mit dem sie Indonesierinnen und Indonesiern, die wenig oder gar nichts über andere Religionen als die eigene wissen, aufklären und schulen möchte. Er erklärte, das öffentliche Schulsystem müsse reformiert werden, damit dort auch Wissen über die vielen verschiedenen Religionsgemeinschaften des Landes vermittelt würde. Zudem betonte er, wie wichtig es sei, die Vorstellung zu bekräftigen, dass es „verschiedene und sich verändernde ethnische und religiöse Identitäten“ gebe.