LWB-Nepal-Team stellt persönliche Sorgen hinten an, um Erdbebenopfern zu helfen

Fahrerin Anita Rana Magar traf während eines Hilfseinsatzes auf eine wütende Menschenmenge und wurde von Erdrutschen aufgehalten. Foto: LWB/ L. de Vries

Gerade jetzt gilt es, Hilfe zu leisten

Kathmandu (Nepal)/Genf, 3. Juni 2015 (LWI) - Als Nepal am 25. April 2015 von einem Erdbeben der Stärke 7,8 auf der Richterskala erschüttert wurde, stürzten Regale im Länderbüro des lutherischen Weltbundes (LWB) in Kathmandu um und hinterliessen einen Haufen Glasscherben und ein grosses Durcheinander aus herausgefallenen Aktenordnern. Das Zuhause von vier unserer MitarbeiterInnen wurde vollständig zerstört, die Häuser anderer wurden beschädigt. Einige MitarbeiterInnen verloren den Kontakt zu ihren nächsten Angehörigen und verbrachten Stunden der Angst und des Wartens auf Neuigkeiten. Trotzdem kehrten sie ins Büro zurück, um anderen zu helfen. Schon wenige Stunden nach dem Erdbeben war ein Notfallteam zusammengestellt und einsatzbereit.

Amrit Sunwar, einer der ältesten LWB-Mitarbeiter, war gerade in einem Gottesdienst, als das Gebäude zu schwanken begann. „Ich erinnerte mich, was ich bei einer Erdbebenschulung gelernt hatte und sagte den Leuten, sie sollten ruhig bleiben und das Gebäude erst verlassen, wenn das Beben vorbei sei“, sagt Sunwar. Der Gottesdienst wurde draussen im Freien fortgesetzt. Was der Mitarbeiter der Finanzabteilung des Länderbüros zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass sein Haus im Bezirk Ramechap im Osten Nepals eingestürzt war. Zum Glück waren seine 80-jährigen Eltern draussen bei der Feldarbeit, so dass sie unversehrt blieben.

Ein schreckliches Erlebnis

Die Küchenhelferin Bishnu Maya Maharjan war gerade dabei, im Haus ihres Bruders Kleidung zu waschen, als die Erde zu beben begann. „Es war ein schreckliches Erlebnis. Ich sah, wie meine Schwägerin mit meinem 16 Monate alten Kind im Arm stürzte, doch ich konnte nicht zu ihnen gelangen. Erst, als das Beben aufhörte, gelang es mir, zu ihnen hin zu kommen. Zum Glück war ihnen beiden nichts zugestossen. Danach konnte ich erst einmal nur weinen.“

Maharjan war nur knapp davongekommen. Ihr eigenes, in traditioneller Bauweise errichtetes Newar-Haus im Herzen Patans im Bezirk Kathmandu stürzte ein. „Da es uns in dem alten Haus an Wasser fehlt, gehe ich samstags zum Wäsche waschen zu meinem Bruder. Das rettete uns das Leben.“

Nisha Kharel, Personalmitarbeiterin beim LWB, befand sich an diesem verhängnisvollen Tag gerade in ihrem Heimatbezirk Chitwan. Dort hatte das Erdbeben nur geringe Auswirkungen. Da sie nichts über ihre Familie in Kathmandu in Erfahrung bringen konnte, beschloss sie, am nächsten Tag zurückzufahren. „Als ich ins Kathmandutal kam, begann ich zu weinen. Die Zerstörung war enorm. Langsam dämmerte mir, dass es sich um eine grosse Katastrophe handelte.“ Zum Glück hatte ihre 70-jährige Mutter das Erdbeben unversehrt überstanden. Die Wohnung jedoch, die Kharel erst kürzlich in einem Hochhaus gekauft hatte, war stark beschädigt.

Hilfe zu leisten ist eine unserer Hauptaufgaben

Am Tag nach dem Erdbeben stattete Sunwar seinen Eltern einen kurzen Besuch ab und half ihnen, eine provisorische Unterkunft zu errichten. Dann organisierte er ein Zelt für seine Frau und seinen Sohn in Kathmandu, da sie beide Angst hatten, in dem gemieteten Zimmer im vierten Stock zu schlafen. Am nächsten Tag kehrte er zur Arbeit zurück. „Hilfe zu leisten, ist eine unserer Hauptaufgaben. Gerade jetzt gilt es, für die Bedürftigen dazu sein“, sagt er.

Maharjan und Ihre Familie leben nun in einem Zelt an der Umgehungsstrasse von Patan. Den Gaskocher und das Kochgeschirr haben sie nach draussen gebracht und kochen nun im Freien. Obwohl das Haus ihres Bruders nur ein paar Risse bekommen hat, traut sich keiner ihrer Verwandten, an diesen Ort zurückzukehren. Trotz der schwierigen Umstände war Bishnu Maya bereits einige Tage nach dem Erdbeben wieder im Büro und bereitete das Mittagessen für bis zu 100 Menschen zu. Ihre Arbeitsbelastung hat sich durch die Ankunft Hunderter freiwilliger HelferInnen, neuer Teammitglieder und BesucherInnen verdoppelt.  Doch das macht ihr nichts aus. „Hier bei meinen Freunden zu sein, hilft mir, mich zu entspannen“, sagt sie.

Kharel und ihre Mutter zogen zu entfernten Verwandten und schliefen in der ersten Woche gemeinsam mit 40 oder 50 anderen Menschen auf dem Boden. Sie hatte zu grosse Angst, in ihre Wohnung zu gehen, um ihre Sachen dort herauszuholen. Trotzdem engagierte sie sich weiter und half dem LWB Nepal, 18 neue Teammitglieder einzustellen und Hunderte von Freiwilligen zu rekrutieren. „Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, zu wissen, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein“, sagt sie.

Gefährliche Hilfseinsätze

Auch wenn die MitarbeiterInnen froh sind, anderen Menschen zu helfen, kann das Team die eigenen Sorgen nicht vollständig vergessen. Sunwar sorgt sich um ihre alten Eltern. „Jeden Morgen frage ich mich: Wie haben sie wohl die Nacht verbracht? Was werden sie heute essen?“, sagt sie. Bishnu Maya, die Küchenhelferin, ruft ihren Mann dreimal täglich an, um zu hören, wie es ihrem Kind geht.

Kharel, die alleinerziehend ist, lebt momentan bei ihrer Schwester und hat ihre wichtigsten Besitztümer aus ihrer Wohnung geholt. „Ich kann oft immer noch nicht glauben, was passiert ist. Meine Mutter hat mir diese teure Wohnung gekauft, die jetzt im Prinzip unbewohnbar ist. Eine hohe Investitionen, die nun verloren ist. Trotzdem, die Bibel gibt mir die Gewissheit, dass es einen Neuanfang gibt. Wider aller Vernunft schöpfen wir Hoffnung.“

Die Hilfseinsätze sind nicht ungefährlich. Anita Rana Magar, eine Fahrerin des LWB Nepal, musste dies am eigenen Leib erfahren, als sie auf dem Weg in den Bezirk Sindhupalchowk war, einen der am schwersten betroffenen Bezirke östlich von Kathmandu. Der Konvoi mit Hilfsgütern wurde von einer wütenden Menge gestoppt, die ihn plündern wollte. „Sie drohten, das Auto umzustürzen und uns anzugreifen“, erzählt Magar. Schnell zog sie ihre LWB-Jacke aus und entgegnete: „Die Sachen sind für unsere Freunde im nächsten Dorf. Ihr könnt Privateigentum nicht einfach beschlagnahmen.“ Die DorfbewohnerInnen zogen sich zurück und das Team verbrachte die Nacht in einem gesicherten Armeelager.

Am nächsten Tag stand Magar jedoch vor einer noch grösseren Herausforderung. Während eines starken Nachbebens des fielen Felsbrocken von den umliegenden Bergen auf das Lager. „Ich hatte grosse Angst. 'Wir werden alle sterben', rief ich. Doch der Hauptmann der Armee tröstete mich und sagte: 'Du wirst heute nicht sterben'.“ Zu beiden Seiten des Armeelagers gab es Erdrutsche. So blieb uns schliesslich nur die Möglichkeit, das Auto zurückzulassen und uns zu Fuss in Sicherheit zu bringen. Auf der langen Wanderung verletzte Magar sich am Fuss. Als das Team schliesslich die Strasse erreichte, wo sie von einem anderen LWB-Fahrzeug erwartet wurden, weinte sie.

Jeder andere Job ist einfach dagegen

Magars Ehemann arbeitet weit weg in Malaysia, daher muss die junge Fahrerin ganz allein zurechtkommen. Inzwischen ist sie jedoch wieder zuversichtlicher. „Nach dem, was mir in Sindhupalchowk passiert war, hatte ich das Gefühl, dass jeder andere Job einfacher ist als unsere Arbeit. Dieses furchtbare Erlebnis ist mit nichts zu vergleichen.“

Die Katastrophe hat das LWB-Team Nepal eng zusammengeschweisst. „Wir sind jetzt mehr wie eine Familie“, sagt ein Teammitglied.

Dank des grossen Engagements des LWB-Teams in Nepal konnten mehr als 3000 Familien in der Woche nach dem Erdbeben mit lebenswichtigen Hilfsgütern versorgt werden. Bisher hat der LWB Hilfsgüter an 13.718 Haushalte in 27 Städten und Dörfern verteilt. Der LWB leistet in sechs Bezirken Hilfe: in Kathmandu, Lalitpur, Bhaktapur, Sindhupalchowk, Rasuwa und Dolakha.

Die am ACT-Bündnis beteiligten Hilfsorganisationen, zu denen auch der LWB zählt und die gemeinsam das ACT Nepal Forum bilden, haben provisorische Unterkünfte, Hygieneartikel, psychologische Unterstützung, Nahrungsmittel und Non-Food-Artikel an 50.468 Haushalte in neun Bezirken im Kathmandutal und im Nordosten Nepals verteilt.

(Beitrag von Lucia de Vries, LWB Nepal)