„L“ wie lutherisch: liebevolle Zuwendung und Dienst an den Nächsten

LWB-Generalsekretär Martin Junge (4. v.l.) während des Besuchs bei einer Sozialstation in Alice Springs, Australien. Die Mitarbeitenden der Lutheran Community Centers erläuterten ihre Aufgaben beim Nothilfeprogramm.

LWB-Generalsekretär Martin Junge besucht Kirchen in Australien und Neuseeland

GENF (LWI) – Im August 2017 besuchte der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes (LWB), Pfarrer Dr. h.c. Dr. h.c. Martin Junge, die Lutherische Kirche Australiens (LKA) und die ihr angegliederte Lutherische Kirche Neuseelands (LKN).

Die LKA, mit ihren ca. 60.000 aktiven Gläubigen und Gemeinden in ganz Australien und Neuseeland, gehört dem LWB als assoziiertes Mitglied an. Durch viele Schulen, Kinderbetreuungs- und SeniorInneneinrichtungen in LKA-Trägerschaft engagiert sich die Kirche stark in den Gemeinwesen vor Ort.

In einem Interview mit der Lutherischen Welt-Information (LWI) sprach Junge über Eindrücke seiner Reise, von der Arbeit der Kirche mit Aborigines und von der besonderen Art und Weise, wie eine lutherische Gemeinde Fremde willkommen heißt.

Welche Erfahrung bei den Kirchen in Neuseeland und Australien hat bei Ihnen den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen?

Es gibt vieles, was mich nach wie vor berührt: Die Arbeit mit den Aborigines in Central Australia samt dem gewaltigen Engagement der Kirche im Sinne der Weggemeinschaft mit dieser Bevölkerungsgruppe. Diese Arbeit verlangt der Kirche viel ab, aber sie ist der festen Überzeugung, dass sie zu diesem Dienst berufen ist.

Dann sind da die vielen kirchlichen Schulen mit ihren Möglichkeiten, in die Gesamtgesellschaft hinein zu wirken; die tiefen, reichen ökumenischen Beziehungen – beeindruckt hat mich der katholisch-lutherische Dialog auf nationaler Ebene samt seinen Ergebnissen.

Der Beitrag, den die Kirche zur theologischen Ausbildung und partnerschaftlichen Mission in anderen LWB-Mitgliedskirchen in Südasien leistet, muss ebenfalls herausgehoben werden. Außerdem ist beeindruckend, wie der diakonische Auftrag sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene intensiv gelebt wird durch die spezialisierten Arbeitsbereiche des Lutheran Community Centers und des Australian Lutheran World Service.

Der LKA gehören, über einen ganzen Kontinent verstreut, 60.000 aktive Mitglieder an. Welche Chancen und Herausforderungen birgt das für diese Kirche?

Ich bin davon überzeugt, dass nicht von der Mitgliederzahl abhängt, was eine einzelne Kirche bewirkt. Vielmehr geht es darum, wie sie den Menschen und der Gesellschaft die verwandelnde Kraft des Evangeliums Jesu Christi nahebringt. Das gilt auch für die LKA.

Die über ein großes Gebiet verstreuten Gemeinden und ihre generelle Minderheitssituation sorgen dafür, dass sich die Kirche der tiefen spirituellen Bande bewusst ist, die Menschen und Gemeinden zu einer Kirche zusammenfügen. Wäre das nicht so, würde es schwierig für sie, langfristig zu überleben. Ich betone das immer wieder: Eine Kirche, die auf sich selbst gestellt ist, ist eine gefährdete Kirche.

Angesichts der gewaltigen Abstände in Australien und Neuseeland ist sich die LKA dieser Tatsache sehr bewusst. Sie entstand aus dem Zusammenschluss zweier schon länger in Australien existierender lutherischer Kirchen. Von Anfang an war man sich daher im Klaren, dass Communio-Beziehungen zwar Herausforderungen bergen, weil Unterschiede miteinander vereinbart werden müssen, dass sie aber gleichzeitig eine unglaublich reiche Quelle der Stärke und Überlebenskraft sind.

Diese Einsicht der australischen Kirche steht im Einklang mit dem Selbstverständnis, das in den LWB-Mitgliedskirchen beim Beschreiten ihres Weges als Kirchengemeinschaft gewachsen ist.

Wie haben Sie in diesem Zusammenhang die indigene Bevölkerung erlebt und wie steht die Kirche ihr zur Seite?

Zunächst muss betont werden, dass es in Neuseeland und Australien viele unterschiedliche indigene Gruppen gibt, von den Māori in Neuseeland bis zu den vielen Gruppen von Aborigines in Australien. Sie lassen sich nicht miteinander vergleichen. Eine Gemeinsamkeit ist jedoch das historische Leid aus der Kolonialzeit – der Verlust ihres Landes, die schreckliche Gewalt, der sie ausgesetzt waren, und ihre Verelendung. Von staatlicher Seite ist inzwischen viel getan worden, um das Unrecht der Vergangenheit zu bewältigen, doch die Traumatisierung, Entfremdung und kulturelle Entwurzelung gehen offensichtlich sehr tief, gerade im australischen Kontext.

Ich habe die Arbeit der Kirche mit den Aborigines in der Stadt Alice Springs kennengelernt und hatte Gelegenheit, mit Verantwortlichen aus dem Seelsorgebereich und aus der Stadt zu sprechen. Die Kontakte bestehen seit vielen Jahren. Was die ersten Missionare, die dorthin kamen, durchgemacht haben, kann man sich kaum vorstellen. Ihre Standhaftigkeit ist beispielhaft. Es ist eine Beziehung der Vertrauens und der Zuneigung gewachsen, die die Aborigines und die Kirche auf besonders enge Weise verbindet.

Mir ist bewusstgeworden, wie sehr die Aborigines die lutherische Kirche schätzen, weil sie zu ihnen in ihrer eigenen Sprache spricht. Leider war ich nicht am Sonntag dort und konnte keinen Gottesdienst mit der Gemeinde feiern, aber ich hatte Gelegenheit, einen Frauenchor der Aborigines zu hören. Das war zutiefst beeindruckend. Ihr Gesang scheint aus der Urzeit der Menschheit zu kommen und stellt Verbindungen her zu Dimensionen, Wissen und einer Weisheit, die uns gänzlich unbekannt sind.

Ich bete darum, dass der LKA der lange Atem geschenkt werde, diese wertvolle Arbeit fortzuführen. Denn ich habe den Eindruck, dass sie auf diesem Weg gerade erst am Anfang steht, auch wenn er schon über einhundert Jahre beschritten wird.

Welche theologischen Themen beschäftigen die Kirche?

Zum einen ist da der ganze Bereich der Fortführung und Erneuerung aller Dimensionen der theologischen Bildung angesichts der aktuellen Herausforderungen, vor denen die Mission steht. Die LKA prüft, wie mehr Menschen erreichen kann, um über das Geschenk der Gnade Gottes in ihrem Leben ins Gespräch zu kommen. Sie sucht nach Möglichkeiten, Ordinierte und Nichtordinierte, die kirchliche Leitungsverantwortung wahrnehmen, hierfür zuzurüsten.

Die Kirche diskutiert nach wie vor über die volle Teilhabe von Frauen am ordinierten Amt. Bei der letzten Synode hat eine Abstimmung gezeigt, dass eine Mehrheit der Frauenordination positiv gegenübersteht, die erforderliche Zweidrittelmehrheit wurde jedoch nicht erreicht. Fundiertes theologisches Material liegt inzwischen vor. Es wird eine neue theologische Stellungnahme zu diesem Thema vorbereitet, auf deren Grundlage die Kirche an dieser sehr wichtigen Frage weiterarbeiten soll.

Ich war sehr erfreut über die Programme und Pläne für das 500. Reformationsjubiläum, die vielfältige gute, kreative Ideen umsetzen. Den Gedanken der ökumenischen Verantwortung, der dem LWB so wichtig ist, hat sich die LKA voll und ganz zu eigen gemacht. Verschiedene wunderbare ökumenische Veranstaltungen sind geplant.

Sie haben die nationale und internationale diakonische Arbeit der Kirche erwähnt. Wie kommt sie im Zusammenhang mit der weltweiten Flüchtlingskrise zum Tragen?

Ein Höhepunkt war mein Besuch bei der Kirchengemeinde in Shepperton, die mit viel Liebe und Zuwendung neuangesiedelte Flüchtlinge aus der Demokratischen Republik Kongo, aus Burundi und aus dem Südsudan willkommen heißt und integriert. Viele dieser Flüchtlinge haben schon lange vorher von lutherischer Seite Hilfe erfahren – zum Beispiel im Flüchtlingslager Kakuma in Kenia, das der LWB unterstützt.

Diese Flüchtlinge assoziieren das lutherische „L“ mit liebevoller Zuwendung und dem Dienst an den Nächsten. Die LKA vollzieht diese Zuwendung durch den LWB und seine Arbeit in Flüchtlingslagern. Auch in ihren Gemeinden wendet sie sich denselben Menschen zu, wenn sie in Australien eine neue Heimat finden.

Dieses anhaltende Engagement beim Schutz von Flüchtlingen und die Art und Weise, wie es die St. Paul’s-Gemeinde in Shepperton umsetzt, machen mich sehr froh. Nach meinem Empfinden konkretisiert diese Gemeinde eindrücklich Gottes Willen durch ihre Offenheit für alle Menschen und dadurch, dass sie mit Vielfalt positiv umgeht und für die Würde jedes einzelnen Menschen eintritt.