Kirchenleitende: Gemeinsame lutherische Werte in unterschiedlichen Kontexten

Teilnehmende der Klausurtagung für neu gewählte Kirchenleitende (RoNEL) kamen aus 16 LWB-Mitgliedskirchen in 13 Ländern. Hier (v.r.) Kirchenpräsident Julio Caballero (Honduras), Bischöfin Leila Ortiz (USA), Nestor Paulo Friedrich (LWB-Vizepräsident, Lateinamerika und Karibik); Samuel Dawai (LWB Regionalreferent für Afrika) und Bischof Johnes Meliyio (Kenia). Foto: LWB/A. Danielsson

RoNEL 2022: Lutherische Identität, Inklusion und dem Dienst am Nächsten

GENF/Schweiz (LWB) – Wie erleben Führungspersonen verschiedener Mitgliedskirchen des Lutherischen Weltbundes (LWB) Kirche in Minderheitenkontexten? Wie gehen sie mit Vielfalt und Inklusion um? Welche Rolle haben sie im öffentlichen Raum, der Ökumene und dem Dienst am Nächsten? Vom 4. bis 12. September behandelte eine Gruppe von 16 Teilnehmenden diese Fragen während der Klausurtagung für neu gewählte Kirchenleitende (RoNEL). Die Tagung fand im Gemeinschaftsbüro des LWB in Genf und Wittenberg in Deutschland.

Der LWB bietet mit dieser Klausur jedes Jahr einen Raum, in dem Bischöfinnen und Bischöfe sowie Präsidentinnen und Präsidenten seiner Mitgliedskirchen und Leitende von Diözesen und Synoden zusammenkommen und über ihre Berufung nachdenken, das Konzept und die Praxis der Kirchenführung reflektieren und sich über die Bedeutung von Führung in der lutherischen Gemeinschaft austauschen können.

Das Priestertum aller Gläubigen

„Führung und bischöfliches Amt in der LWB-Gemeinschaft“ war das Thema der diesjährigen Klausurtagung. Nestor Paulo Friedrich, LWB-Vizepräsident für die Region Lateinamerika und die Karibik, lud Teilnehmende dazu ein, darüber nachzudenken, was eine gute Führungsperson, gute Führung und Management sowie die Ausübung von Macht und Autorität bedeuten.

Die Kirchenleitenden waren sich einig, dass die Rolle eines Bischofs oder einer Bischöfin „ein Schäfer seiner Herde (ist), der als Hauptpastor nicht nur leitet, sondern auch Themen unter den Pastorinnen und Pastoren sowie Kirchengemeindemitgliedern moderiert“ und dabei „insbesondere durch Besuche der Kirchgemeinden eine gesunde Lehre innerhalb der Kirche oder der Diözesen“ aufrechterhält. Sie stellten fest, dass eine Führungsperson die Menschen zu „Gottes Vision“ hinführt und die Kirche vertritt, indem sie „für Gerechtigkeit in der Gesellschaft eintritt und eine prophetische Stimme ist“. Neben den Hauptaufgaben des Predigens und Lehrens wird von einer Führungsperson erwartet, dass sie „eine Vision oder Strategie vorgibt, wohin wir als Kirche gehen wollen“ und dass sie die Verantwortung für die Lösung von Konflikten in der Kirche selbst und in der weiteren Gemeinschaft übernimmt.

Friedrich, früherer Präsident der Evangelischen Kirche L.B. in Brasilien (IECLB), forderte die RoNEL-Teilnehmenden dazu auf, sich auf das „allgemeine Priestertum aller Gläubigen“ zu konzentrieren, das voraussetzt, dass die Getauften befähigt und herausgefordert werden, ihre Gaben in den Dienst zu stellen. „Führung ist eine gemeinschaftliche Tätigkeit, zu der die Beteiligung von Personen, Gruppen und Arbeitsbereichen gehört“, ohne Entscheidungen und Aufgaben auf eine Person zu konzentrieren. „Delegieren Sie Aufgaben, verteilen Sie sie und vertrauen Sie sie anderen an: Das ist Teil einer gesunden Führung. Diese Art von Führung müssen wir in der Kirche und Institutionen entwickeln", betonte er.

Friedrich verglich diese gemeinsame Führung mit dem menschlichen Körper, in dem jedes Glied wichtig ist und eine Funktion hat. In ähnlicher Weise „spielen Führungspersonen eine besondere Rolle bei der Umsetzung von Prozessen. Aber da sie genau wie die übrigen Mitglieder Teil eines Gremiums sind, sind sie auch allen Mitgliedern gleichgestellt.“ Die Führungspersonen der Gemeinschaft tragen zwar eine besondere Verantwortung in administrativen und spirituellen Angelegenheiten, „aber sie unterscheiden sich nur in diesem Hinblick von den anderen Mitgliedern“, fügte er hinzu.

Lutherische Identität in unterschiedlichen Kontexten

Die Teilnehmenden tauschten sich über ihre Erfahrungen mit lutherischer Identität aus, darüber, was eine Minderheitenkirche ausmacht, und über die Chancen und Herausforderungen in den jeweiligen Kontexten. Die Vereinigten Staaten bewegen sich allgemein von einer christlichen Nation hin zu einem eher säkularen Kontext, und viele Kirchen seien dabei herauszufinden, was dies für sie bedeute, sagte Bischöfin Regina Hassanally von der Südost-Minnesota-Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika (ELCA). „Die Auffassung, dass man nur dann gerettet wird, wenn man die Regeln befolgt, ist weit verbreitet. Für mich geht es darum, sich bewusst zu machen, dass der lutherische Glaube ein einzigartiges Geschenk ist, das keine andere Kirche in meinem Umfeld anbietet“, fügte sie hinzu.

Julio Caballero, Kirchenpräsident der Christlich-Lutherischen Kirche von Honduras (ICLH), sagte, dass von seiner relativ kleinen Kirche mehr Verantwortung und Engagement erwartet werde. Ihre „Mitglieder leben sehr bescheiden“ und „nicht alle haben die Kaufkraft, um ein würdiges Leben zu führen“. Er sagte, ungefähr 90 Prozent der Kirchenmitglieder seien Frauen.

Während die Evangelische Kirche A.B. in der Slowakischen Republik, deren Anfänge auf die Reformation im 16. Jahrhundert zurückgehen, in der früheren kommunistischen Ära als lutherische Minderheitskirche galt, sei dies heute nicht mehr der Fall, so Bischof Ivan Elko. Im Gegenteil, die Kirche habe sich durch ihr langjähriges Engagement in den Bereichen Bildung, Kultur und Politik einen Namen gemacht.

Eine inklusive Kirche

Einheit in der Vielfalt war eines der Konzepte, das die RoNEL-Gruppe diskutierte. Obwohl von allen angenommen wird, dass sie mit eingeschlossen sind, hätten sie beobachtet, dass viele Menschen ausgeschlossen werden oder sich in der Kirche nicht willkommen fühlen. Sie verwiesen auf das gemeinsame Versagen, die Kirche zu einem förderlichen Umfeld für Menschen mit Behinderungen, sexuelle Minderheiten, Migrantinnen und Migranten, Christinnen und Christen sowie Menschen anderer Religionen zu machen. Sie stellten fest, dass eine Kirche, die sich auf etwas Neues einlässt, bereit sein sollte, ihre Bequemlichkeit zu opfern oder etwas zu verlieren.

„Wo fangen wir mit der Botschaft des Evangeliums an, wenn das Gottesbild ein Mann mit weißem Bart ist?“, fragte die Präsidentin der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche (IELU) in Argentinien, Wilma Elisabeth Rommel. Sie fügte jedoch hinzu: „Eine integrative Kirche kann einigen Menschen Unbehagen bereiten, eben weil sie alle aufnimmt.“

Bischof Kenneth Sibanda von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Simbabwe stellte fest, dass die meisten Kirchen sehr konservativ seien. „Gott hat Männer und Frauen geschaffen; alle müssen in die Kirche kommen – alle: Gerechte und Sünder. Die Kirche soll alle Menschen aufnehmen, und wir stellen jedenfalls kein Schild auf, auf dem steht: ‚Du bist nicht willkommen‘.“

Eine prophetische Stimme und dem Nächsten dienen

Die Teilnehmenden tauschten sich auch über die Herausforderungen und Möglichkeiten aus, die sich für die prophetische Stimme der Kirche in einem ökumenischen Kontext und in der Gesellschaft ergeben. In einem überwiegend muslimischen Kontext führe die Evangelisch-Lutherische Kirche in Malaysia (ELCM) einen offenen Dialog mit anderen christlichen Konfessionen über Fragen von beidseitigem Interesse in der Gesellschaft und der Ökumene im Allgemeinen, sagte ELCM-Bischof Steven Lawrence.

Der Präsident der Kirche der Lutherischen Brüder in Kamerun, Alvius Debsia Dabah, erklärte, dass das soziopolitische Umfeld in seinem Land relativ günstig sei. „Wir haben mehr Möglichkeiten, mit Menschen in Not zu arbeiten und Evangelisationskampagnen durchzuführen.“ Er stellte fest, dass die Arbeit der Kirche zur Friedensförderung ebenfalls anerkannt werde und verwies auf einen Besuch mit muslimischen Führungspersonen in Gemeinden im konfliktreichen nördlichen Teil des Landes.

In Honduras, wie auch in anderen Ländern der Region, darunter El Salvador, Nicaragua und Venezuela, seien die lutherischen Kirchen relativ klein, sagte ICLH-Bischof Caballero. „Es ist schwierig, für die zu sprechen, die keine Stimme haben, wenn Gewalt alltäglich ist. Es ist eine Herausforderung für eine arme Kirche. Doch wir folgen diesem Ruf weiter.“

Am diesjährigen RoNEL-Treffen nahmen auch führende Kirchenvertreterinnen und -vertreter aus Brasilien, Kenia, Indonesien, Serbien, Singapur und Russland teil.

Beim zweiten Teil des RoNEL-Programms, der vom 9. bis 12. September im LWB-Zentrum in Wittenberg  stattfand, hielt Cheryl M. Peterson (Trinity Lutheran Seminary, USA) einen Vortrag über lutherische systematische Perspektiven des Bischofsamtes. Die Kirchenleitenden besuchten auch den Luthergarten in Wittenberg, ein lebendiges, internationales und ökumenisches Denkmal mit 500 Bäumen, das an das Reformationsjubiläum 2017 erinnert, sowie die historischen Stätten der Stadt Martin Luthers.

Von LWB/P. Mumia. Deutsche Übersetzung: Tonello-Netzwerk, Redaktion: LWB/A. Weyermüller