Hoffnung wecken, Unterstützung anbieten und Trost spenden in der Krise

Kirchenpräsident der IELV, Pfr. Gerardo Hands. Foto: LWB/A. Danielsson

Interview mit Pfr. Gerardo Hands, Kirchenpräsident der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Venezuela

Caracas (Venezuela)/Genf (LWI) – Den Menschen Hoffnung machen und ihnen praktische Unterstützung und Hilfe anbieten – so möchte die Evangelisch-Lutherische Kirche in Venezuela (IELV) der Bevölkerung in dem südamerikanischen Land helfen. Die politische und wirtschaftliche Krise des Landes hat zur Folge, dass Nahrungsmittel knapp sind, das öffentliche Gesundheitswesen zusammengebrochen ist und bereits mehr als drei Millionen Menschen Venezuela verlassen haben.

Der Kirchenpräsident der IELV, Pfr. Gerardo Hands Colmenares, erklärt, welche Auswirkungen die Krise für die Kirche hat, und bringt seine Hoffnung auf eine Rückkehr zu Frieden und demokratischer Ordnung in dem krisengeschüttelten Land zum Ausdruck.

Können Sie kurz etwas über sich erzählen?

Ich bin 2002 zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in Venezuela gekommen. Ich habe damals eine Gemeinde besucht. Eigentlich gehörte ich zu einer anderen lutherischen Synode und war von dem damaligen Pastor der Gemeinde, dem Brasilianer Joao Willig, der auch Präsident der IELV war, eingeladen worden, im Gottesdienst zu predigen. Er wollte in seine Heimat Brasilien zurückkehren, also habe ich eine Art Probezeit von drei Monaten in der Gemeinde absolviert.

Und seitdem war ich dann für eine Gemeinde in Venezuela zuständig und wurde 2013 zum Kirchenpräsidenten der IELV berufen. Im Dezember 2018 bin ich wiedergewählt worden und bin nun in meiner zweiten Amtszeit.

Wie würden Sie die aktuelle Situation in Venezuela beschreiben?

Die Situation ist sehr schwierig und komplex. Die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Lage wirkt sich im ganzen Land aus und somit auch in unseren Gemeinden, die im ganzen Land verstreut sind. Wir sind eine sehr kleine Kirche mit nur fünf Gemeinden und einer Pfarrerin und drei Pfarrern.

Die meisten Mitglieder unserer Kirche stammen heute aus der unteren Mittelschicht, weil die meisten Menschen der höheren Gesellschaftsschichten in ihre Ursprungsländer – insbesondere nach Europa – zurückgekehrt sind. Andere sind nach Chile oder Argentinien ausgewandert. Wer weniger Geld hatte, ist nach Kolumbien, Ecuador oder Bolivien gegangen. Und meistens haben sie ihre ganzen Familien mitgenommen.

Wie wirkt sich das auf die Kirche aus?

Es wirkt sich ganz direkt auf unsere Kirche aus – angefangen bei Ausfällen im öffentlichen Verkehr, was zu Problemen für die Menschen führen, die in unseren Schulen arbeiten oder am Sonntag in unsere Gottesdienste kommen wollen. Auch die steigenden Lebenshaltungskosten und fehlenden Mittel haben große Auswirkungen auf die Teilhabe der Menschen in unserer Gemeinschaft. Sie stehen jeden Tag erneut vor der Schwierigkeit, überhaupt ausreichend zu essen oder Medikamente oder eine ärztliche Versorgung zu bekommen. Das macht es ihnen unmöglich, auch noch an unseren Aktivitäten teilzunehmen.

Die Mitglieder unserer Kirchen sind derzeit hauptsächlich Kinder und ältere Menschen, weil die meisten jungen Menschen das Land verlassen haben. Mit unseren diakonischen Diensten versuchen wir jenen zu helfen, die Schwierigkeiten haben, überhaupt genügend zu essen zu bekommen.

Durch unser Netzwerk lelco und andere Organisationen haben wir Medikamente für Menschen beschaffen können, die auf Insulin angewiesen sind, oder für Menschen mit Nierenleiden, die eine Behandlung benötigen. Darüber hinaus bieten wir Vorschulunterricht an und betreiben ein Heim für Kinder in prekären Lebenssituationen. Wir haben erlebt, dass Solidarität ein wichtiges Hoffnungssignal für die Menschen sein kann.

Hat die Abwanderung so vieler Menschen, insbesondere von ausgebildeten Fachleuten, direkte Auswirkungen für Sie?

Ja! Die Abwanderung unseres Lehrpersonals und unserer Mitarbeitenden ist ein weiteres großes Problem. Bis vor zwei Jahren kannte ich das ganze Lehrpersonal und alle Mitarbeitenden mit Vor- und Nachnamen und ich habe sie immer mal wieder zuhause besucht. Aber jetzt ist das komplette Lehrpersonal am Colegio Venezolano Alemán aufgrund der Auswanderung alle zwei bis drei Monate ausgewechselt und das gilt sowohl für die spanischsprachigen als auch für die deutschsprachigen Lehrkräfte. Die größten Schwierigkeiten haben wir in Caracas, wo die meisten deutschen Lehrkräfte genau wie der deutsche Botschafter aufgrund der schwierigen Situation im Land ausgewiesen wurden.

Uns mangelt es ganz akut an Personal, unsere wertvollste Ressource. Viele hochqualifizierte Fachleute haben das Land verlassen und wurden in anderen Ländern mit offenen Armen empfangen, aber wir stehen nun ohne sie da. Das ist die größte Herausforderung, vor der wir beim Wiederaufbau unseres Landes stehen.

Wie reagiert die Kirche auf diese Herausforderungen?

Unsere wichtigste Aufgabe war und ist immer die Verkündigung des Evangeliums. Aber die Botschaft des Evangeliums verlangt auch konkretes Handeln, und deshalb ist unser diakonisches Engagement und unser Dienst an der Gemeinschaft heute so wichtig.

Wenn die Botschaft des Evangeliums in der Gesellschaft so ganz konkret gelebt und sichtbar gemacht wird, werden Beziehungen gestärkt, und die Hoffnung wächst wieder. Wir bieten Menschen seelsorgerliche Begleitung, wenn sie mit dem Verlust geliebter Menschen, die ins Ausland gegangen sind, fertig werden müssen. Wir wissen, dass der Gott des Trostes bei uns ist. Wir bemühen uns um die ganz persönliche Verwandlung der Menschen, damit sie wiederum in anderen Menschen Wandel bewirken und Botschafterinnen und Botschafter der Hoffnung sein können.

Die Kirche sendet in diesen schwierigen Zeiten also tatsächlich ein Signal der Hoffnung?

Die Kirche war schon immer ein Zeichen der Hoffnung, aber erst in dieser schwierigen Situation erkennen viele Menschen das Zeugnis der Kirche. Die Gemeinschaft wird gestärkt und in die Lage versetzt, anderen zu helfen, was dazu führt, dass wir für andere Menschen als Anlaufstelle für Hilfe oder Begleitung in schwierigen Situationen wahrgenommen werden.

Welche Rolle kann die Kirche im öffentlichen Raum in Venezuela heute spielen?

Wir sind eine sehr kleine Kirche, daher ist auch unser Einfluss im öffentlichen Raum sehr gering. Früher einmal hatten wir mehr Einfluss, weil Mitglieder unserer Kirche in der Regierung waren oder bei Organisationen und Unternehmen gearbeitet haben, die über eine gewisse Macht verfügten. Heute sind wir auf ein Viertel oder weniger unserer Größe von vor fünf Jahren geschrumpft.

Wo würden Sie Venezuela gerne in fünf Jahren sehen, und was muss Ihrer Ansicht nach passieren, damit das möglich ist?

Zu allererst muss unser Land auf wirtschaftlicher und politischer Ebene eine Einigung erzielen. Leider haben wir derzeit zwei Exekutiven, zwei Legislativen und zwei rechtsprechende Gewalten. Die einen sind international anerkannt, die anderen nicht. Wer an der Macht ist, ist unklar.

Am besten wären für uns freie Wahlen und die Wiederherstellung der demokratischen Ordnung in unserem Land. Es müssten Menschen gewählt werden, die keine wirtschaftlichen oder politischen Interessen an der Macht haben, aber das ist sehr schwer. Für uns bleibt daher eigentlich nur, uns der Herausforderung zu stellen und zu bleiben und uns jeden Tag dafür zu engagieren, unseren Gemeinschaften zu helfen, und wo immer es möglich ist, unseren Beitrag zu leisten, Wandel zu bewirken. Schritt für Schritt können wir etwas bewirken und am Ende viel erreichen.

 

Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.