Gehörlose Schüler in Kakuma wollen hoch hinaus

Foto: LWB/C. Kästner

Bildungsarbeit des LWB fördert Inklusion im Flüchtlingslager

KAKUMA, Kenia/GENF (LWI) – Abdulbagi (17) möchte nach der Schule Pilot werden, sein Freund Maliah (18) Trucker – „für die großen Laster“, stellt er klar. Abdulbagi ist nicht überzeugt: „Wie willst du mitbekommen, wo die anderen Autos sind?“ Maliah ist nicht auf den Mund gefallen: „Wie soll das bei dir mit dem Fliegen funktionieren?“

Der gesamte Austausch findet statt, ohne dass ein einziges Wort gesprochen wird – die beiden verständigen sich mit Gebärdensprache. Abdulbagi und Maliah besuchen gemeinsam mit vier anderen jungen Leuten das Abschlussjahr der Gehörlosenklasse in der Fashoda Boys Primary School im Flüchtlingslager Kakuma, die der Lutherische Weltbund (LWB) verwaltet.

140 Schülerinnen und Schüler in einer Klasse

„Wir haben 2010 damit angefangen, Kinder mit Körperbehinderungen einzubinden“, erläutert der Bildungsreferent des LWB, Damian Okello. „Wir versuchen, die Barrieren abzubauen, die sie am Schulbesuch hindern – auf der institutionellen Ebene sowie der Ebene der Infrastruktur.“ Für Schülerinnen und Schüler mit Mobilitätseinschränkungen bedeutet das, dass die Klassenräume für Rollstühle zugänglich gemacht werden müssen. Für Gehörlöse muss eine Lehrkraft ausgebildet werden. Die Ausbildung läuft zum einen über das für Heil- und Sonderpädagogik zuständige Kenya Institute of Special Education, dazu kommt ein vom LWB vor Ort durchgeführter Kurs in Gebärdensprache.

Zunächst startete das Programm auf der Ebene der frühkindlichen Entwicklung, wurde später auf die gesamte Primarschulebene ausgeweitet. „Wir versuchen, Inklusion in der Schule zu fördern, aber das Hauptproblem ist die hohe Zahl von Schülerinnen und Schülern pro Klasse, die die Durchführung eines individualisierten Bildungsprogramms sehr schwierig macht. Aktuell entfallen auf eine Lehrkraft 140 Schülerinnen und Schüler“, erläutert Okello.

„Man kann sich kaum rühren, wie soll man da einen Rollstuhl bewegen oder auf die besonderen Bedürfnisse eines einzelnen Kindes eingehen?“, fragt eine Lehrkraft. Trotzdem bleibt die eigene Familie vielfach das größte Hindernis für die Bildung junger Menschen mit Behinderungen.

„In den meisten Kulturen hier werden für eine Behinderung böse Geister verantwortlich gemacht oder sie gilt als Strafe für die Eltern. Sie haben eine Sünde begangen und jetzt ist ihr Kind besessen oder verhext“, führt Okello aus. Das hat gravierende Folgen für die betroffenen Kinder. „Männer lassen sich von ihren Frauen scheiden, Eltern vernachlässigen ihre Kinder“, erklärt er. „Sie werden am Bett oder auch vor dem Haus angebunden.“ Manchmal, so Okello weiter, „ist die ganze Situation so schrecklich, da muss man einfach eingreifen.“

Eltern sind hilflos

Selbst im besten Fall sind die Eltern oft hilflos, wenn es um den Umgang mit Kindern geht, die besondere Bedürfnisse haben, stellen die Mitarbeitenden des LWB fest. „Sie erhalten wenig Unterstützung dabei, zu erlernen, wie sie gut für Kinder mit Behinderungen sorgen können. Die Eltern wissen nicht, wie sie mit einem gehörlosen Kind kommunizieren oder ein blindes Kind betreuen können. So oder so hat ihre Schulbildung keinen Stellenwert“, weiß Okello.
Abdulbagi und Maliah haben diese Sprachlosigkeit in ihren eigenen Familien erlebt. Maliah erinnert sich, dass seine Familie ihn einfach ignorierte und nutzlos nannte, bis er ihr den Rücken kehrte und in einer Kirche in der Nähe um einen Schlafplatz bat. Dort wohnt er seit Monaten. Abdulbagi lebt bei seinen beiden älteren Brüdern, die selbst Lehrer sind: „Manchmal tun wir uns schwer, einander zu verstehen.“

Bewusstseinsbildung

Der LWB betreibt bei den Menschen vor Ort Bewusstseinsbildung, so dass Eltern Behinderungen erkennen lernen und ihnen Wissen darüber vermittelt wird, wie sie behinderte Kinder großziehen und unterstützen können. Weiterhin ist der LWB aktuell dabei, in Kakuma ein Untersuchungszentrum aufzubauen, das Behinderungen bei Kindern diagnostizieren soll, damit gezielter geholfen werden kann. „Aktuell wissen wir nicht, wie viele Schülerinnen und Schüler hier eine Behinderung haben und wie schwer sie jeweils ist“, erläutert Okello.

Er hofft, dass das Zentrum die nötigen Daten liefern und es außerdem erleichtern wird, Kinder mit Hörgeräten auszustatten oder ihnen gar eine Operation zu vermitteln. Damit wäre ein Anfang gemacht, zumindest einige der Barrieren zu beseitigen, mit denen sich Kinder und Jugendliche mit Behinderungen konfrontiert sehen. „Aktuell haben wir im Flüchtlingslager Kakuma noch keine angemessenen Angebote für Schülerinnen und Schüler mit geistigen Behinderungen“, bedauert Okello jedoch.

Selbst für gute Schüler wie Abdulbagi und Maliah gibt es nur einen Weg, eine weiterführende Schule besuchen zu können. Sie brauchen ein Stipendium für eines der staatlichen kenianischen Gehörloseninternate. Beide lernen fleißig für die Abschlussprüfungen der Primarstufe. Zum Vorbild haben sie sich ehemalige Schüler ihrer Klasse genommen, „die erstaunlich gut abgeschnitten haben“, wie es vonseiten der Lehrkräfte heißt.

Große Träume

Abdulbagi und Maliah träumen von einer friedlichen, sicheren Zukunft – weit weg vom Krieg in ihrer südsudanesischen Heimat, aber auch in Unabhängigkeit von Menschen, die sie als Last für das Gemeinwesen und für die Familie betrachten. Trotz der negativen Erfahrungen mit seiner eigenen Familie möchte Maliah ein Haus haben, in dem er mit allen seinen Verwandten leben kann. „Ich werde einen Zaun bauen, damit mich niemand stören kann“, lautet sein Plan, denn die Leute im Lager stehlen nicht selten seine Wäsche von der Leine.

Beide junge Männer sehen ihre Zukunft an dem Ort, wo sie auch aufgewachsen sind. „Kakuma ist mein Zuhause“, erklärt Abdulbagi. „Wir können nicht zurück. Dieselben Leute, die dem Südsudan zuerst Frieden gebracht haben, haben auch den Krieg angefangen.“

Im besten Fall werden die beiden zukünftig auch ihren jeweiligen Traumberuf ausüben können. Maliah meint, dass sich Trucker sowieso hauptsächlich mit Gesten verständigen, und Abdulbagi hofft, dass, bis er einmal seine Ausbildung abgeschlossen hat, inzwischen auch gehörlose Piloten Flugzeuge steuern dürfen.

Die Bildungsarbeit des LWB im Flüchtlingslager Kakuma wird von der Europäischen Union (ECHO) finanziert.