Estnischer Erzbischof: Wir müssen Friedensuchende sein

Urmas Viilma, Erzbischof der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche und Vizepräsident des Lutherischen Weltbundes (LWB) für die Region Mittel- und Osteuropa. Foto: LWB/Albin Hillert

Erzbischof Urmas Viilma: Für die Ukraine beten und das Friedensevangelium verkünden

TALLIN, Estland/GENF (LWI) – Als Antwort auf den Angriff Russlands auf die Ukraine werden die Kirchen in der Region aufgerufen, sich für den Frieden einzusetzen und Krieg und Gewalt zu verurteilen, aber auch dafür zu sorgen, dass die großen russischen Gemeinschaften in ihren jeweiligen Ländern keinen Anfeindungen ausgesetzt sind. Erzbischof Urmas Viilma, Vizepräsident des Lutherischen Weltbundes (LWB) für die Region Mittel- und Osteuropa, sagt, „die Mission der Kirche ist es, zu beten, der Kriegsopfer zu gedenken und das Friedensevangelium jederzeit zu verkünden.“

Als das russische Militär in den Morgenstunden des 24. Februar mit seinen Angriffen im Osten der Ukraine begann, feierten die Menschen in Estland ihren nationalen Unabhängigkeitstag. Der aus zehn Mitgliedern bestehende Estnische Kirchenrat hatte sich bereits besorgt wegen der eine Woche zuvor an der ukrainischen Grenze zusammengezogenen russischen Truppen geäußert. „In gewisser Weise waren wir aufgrund der Spannungen der vergangenen acht Jahre darauf vorbereitet“, sagt Erzbischof Viilma, „aber niemand wollte glauben, dass das tatsächlich passiert.“

Am Tag danach forderte der Erzbischof die Menschen in Estland nachdrücklich auf, für ein Ende des Konfliktes zu beten, und leitete Spenden direkt an die Kirche in der Ukraine weiter, die bereits mit der Unterstützung der vor der Gewalt fliehenden Menschen begonnen hatte. Am 26. Februar, leitete er dann einen Gottesdienst in der größten lutherischen Kirche in Tallinn, verurteilte Russlands Aggression und forderte die Kirchen im ganzen Land auf, in der folgenden Woche die Glocken zu läuten, um an die Opfer des Krieges zu erinnern. Schließlich verurteilte das Konsistorium der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (EELK) die russische Invasion und rief die Menschen auf, großzügig an vier humanitäre Organisationen zu spenden, darunter das Rote Kreuz und der LWB-Notfallfonds.

Praktische und psychologische Unterstützung

Inzwischen hat der diakonische Dienst der EELK in Partnerschaft mit der estnischen Regierung damit begonnen, umfassende Unterstützungsaktionen für Geflüchtete durchzuführen und alle Kirchen im Land zu erfassen, die Menschen in ihren Gemeinden aufnehmen können. Am 9. März waren 10.000 Geflüchtete in Estland angekommen, fünf Mal mehr, als die Regierung anfangs prognostiziert hatte. Einige wollen weiter nach Schweden oder Finnland, während die meisten Menschen, die bleiben wollen, Frauen und Kinder sind, die sowohl praktische als auch psychologische Hilfe brauchen. Darüber hinaus begeben sich Mitglieder der ökumenischen Seelsorge an die polnisch-ukrainische Grenze und reisen von dort aus weiter, um alles in ihrer Macht stehende zu unternehmen, um den vor dem Konflikt fliehenden Menschen seelsorgerische und spirituelle Hilfe zu geben.

Lutherische Gemeinden haben fünfhundert Geflüchteten ihre Gastfreundschaft angeboten und die Maßnahmen anderer humanitärer Organisationen unterstützt. „Im Vergleich zu den eineinhalb Millionen Geflüchteten, die Polen bereits aufgenommen hat, hat Estland nur einer kleinen Zahl Schutz geboten“, sagt Viilma, „aber wir sind ein kleines Land mit nur 1,3 Millionen Menschen.“  Bei Gesprächen mit Kirchenleitenden im Land wies er darauf hin, „dass wir uns auf eine längerfristige Hilfsaktion einstellen müssen. Im Moment haben wir eine emotionale Reaktion, und alle wollen helfen, aber selbst, wenn der Krieg jetzt aufhört, muss die Ukraine wieder aufgebaut werden, und auch dafür müssen wir planen.“

Bei Gesprächen mit dem lettischen Erzbischof Janis Vanags und dem litauischen Bischof Mindaugas Sabutis hat Viilma festgestellt, dass es in allen drei Baltenrepubliken eine große Zahl russischer und russischsprachiger Bürger und Bürgerinnen gibt. Laut einer aktuellen Umfrage unterstützen mehr als 30 Prozent derer, die in der Nähe der östlichen Grenze zu Russland leben, den Krieg. Das ist „sehr, sehr alarmierend“, so Viilma. In der vergangenen Woche hat die estnische Regierung beschlossen, alle russischen Medienkanäle zu blockieren, aber, so fügt er hinzu, die Spannungen seien groß.

„Ich habe nichts von Gewaltaktionen gegen unsere russischen Mitmenschen gehört“ fährt Viilma fort, „aber die säkularen Medien erwarten vom Estnischen Kirchenrat, dass wir die Russisch-Orthodoxe Kirche ausschließen, und das ist nicht akzeptabel. Wir haben immer gut mit dieser Kirche zusammengearbeitet, aber die Menschen erwarten von den örtlichen Metropoliten, dass sie sich von den Aussagen des Moskauer Patriarchen Kyrill distanzieren“, sagt er.

Die Kirche müsse besonders im Kontext des Baltikums eine „ausgleichende Kraft in einer komplizierten Situation sein“, insistierte der Erzbischof. „Auf der einen Seite müssen wir Putins Aktionen und die Gewalt gegen das ukrainische Volk verurteilen, aber auf der anderen Seite müssen wir sicherstellen, dass es gegenüber den russischsprachigen Menschen in unseren Gesellschaften keine Feindseligkeiten gibt. Wir können uns kritisch äußern, aber wir können die Spannungen nicht noch weiter erhöhen oder Menschen ausgrenzen, denn die Kirche besteht aus Menschen.“

„Wir müssen uns jederzeit für Frieden einsetzen“, so Viilma abschließend, und stellt fest, dass dieser Konflikt um die Ukraine seit langer Zeit absehbar gewesen sei. „Es gibt immer Angriffe, Kriege und Gewalt gegen Gruppen oder Länder oder Glaubensgemeinschaften, aber wenn sie weit weg von uns geschehen, nehmen wir sie nicht so sehr zur Kenntnis. Aber wir müssen uns bewusst sein, dass sie auch auf unseren Straßen, in unseren Häusern und in den Höfen unserer Nachbarn stattfinden können, und deshalb müssen wir zu jeder Zeit Friedenstiftende und Friedensuchende sein“, sagt er.

Von LWB/P. Hitchen. Deutsche Übersetzung: Detlef Höffken, Redaktion: LWB/A. Weyermüller