„Eine Gemeinschaft der Liebe“

LWB-Präsident Bischof Dr. Munib A. Younan. Foto: LWB/M. Renaux

Ansprache von LWB-Präsident Younan anlässlich der Tagung des Rates

Wittenberg (Deutschland)/Genf, 16. Juni 2016 (LWI) – In seiner heutigen Ansprache hat der Präsident des Lutherischen Weltbundes (LWB), Bischof Dr. Munib A. Younan, die LWB-Mitgliedskirchen aufgefordert, einen kritischen Dialog über die Grundlagen und die gemeinsame Verantwortung der Kirchengemeinschaft zu führen.

„Die weltweiten Krisen erfordern mehr als höfliche Aufmerksamkeit von uns, sie erfordern unser Handeln. Aber wir können nicht tatkräftig handeln, ohne unsere Prämissen und unsere Grundmotivation zu hinterfragen“, erklärte Younan vor dem LWB-Rat, der zu seiner diesjährigen Tagung vom 15. bis 21. Juni in Wittenberg, Deutschland, zusammengetreten ist.

„Wir müssen deutlich miteinander sprechen und die Wahrheit aus unserer jeweiligen Perspektive benennen. Höflichkeit hat ihren Platz, aber das Bemühen um einen ‚höflichen‘ Umgang kann das Ziel unseres gemeinsamen Redens unterlaufen.“ In seiner Rede mit dem Titel „Eine Gemeinschaft der Liebe“ ermutigte Younan die Delegierten der LWB-Mitgliedskirchen, sich kritisch auseinanderzusetzen mit dem lutherischen Selbstverständnis beim Thema Kirchenleitung, bei der wechselseitigen Teilhabe an der Mission Gottes, bei der prophetischen Diakonie inmitten weltweit zunehmender Fremdenfeindlichkeit sowie bei der Vorbereitung der Zwölften Vollversammlung 2017 und des Gedenkens anlässlich des 500. Reformationsjubiläums.

Younan, Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land, unterstrich dass ehrliche Kritik im LWB nicht dazu diene, „die Möglichkeit von Gemeinschaft zu blockieren, sondern dazu einander aufzubauen“. Durch theologische Bildung solle ein Bewusstsein und ein besseres Verständnis geschaffen werden für Themen wie Kolonialgeschichte und koloniale Praxis oder für den Zusammenhang zwischen struktureller Ungleichheit und dem finanziellen Druck, der sowohl gebende als auch nehmende Kirchen historisch belaste.

Es sei wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, „dass unsere Beziehung nicht auf Geld gründet, sondern in etwas viel Tieferem und Grösserem – in der Liebe Gottes, die sich in seiner Gnade äußert. In dieser Gemeinschaft der Liebe sind wir zur wechselseitigen Verantwortung und zum Wohl der Anderen berufen.“

Weiter stellte Younan fest, dass es unbedingt erforderlich sei, sich aufs Neue mit dem lutherischen Verständnis vom Wesen und Zweck des bischöflichen Amtes auseinanderzusetzen, insbesondere im christlichen Kontext einer Welt, die zunehmend den materiellen Erfolg in den Mittelpunkt stelle. Ekklesiologische Fragen zur Rolle und Macht im bischöflichen Amt seien ebenfalls weiter zu diskutieren.

Die Autorität von Bischöfinnen und Bischöfen unterliege, wie die aller Geistlichen, dem liebevollen, befreienden Gebot der höchsten Autorität im Luthertum – dem Evangelium. Es verweise zudem auf die Kraft, die allen Menschen innewohne, und nicht dem bischöflichen Amt vorbehalten sei. „Kehrten wir zu diesem Verständnis unseres zentralen Bekenntnisses zurück, so würde unsere Kirche von einem Abbild der Liebe Gottes geleitet“, betonte der LWB-Präsident.

Fremdenfeindlichkeit

Das Ziel, eine Gemeinschaft der Liebe zu schaffen, so der LWB-Präsident, sei in der heutigen Situation gefährdet durch die zunehmende Fremdenfeindlichkeit. Ihre besorgniserregendste Form sei ein religiös untermauerter Extremismus, der eine angemessene Reaktion auf menschliches Leid gefährde. Dies zeige sich im der nordatlantischen Bereich beispielsweise bei einigen europäischen Gruppen, die Front machen gegen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak, die sich „einen Teil des europäischen Brotes nehmen wollen.“

In Südafrika zeige sich eine Tendenz zu ethnischer Dominanz bei den so genannten „Economic Freedom Fighters“, die dafür eintreten, staatliche Leistungen ausschließlich Schwarzen vorzubehalten. Aus Indien wiederum höre man beunruhigende Berichte von Übergriffen auf Menschen afrikanischer Herkunft. Younan forderte die lutherische Kirchengemeinschaft auf, sich ihrer Rolle klar zu werden, um gegen solche Formen der Fremdenfeindlichkeit anzugehen.

Dienst am Nächsten

Der LWB-Präsident dankte den Mitgliedskirchen, „bis in jede einzelne Gemeinde“, für deren gemeinschaftliche Unterstützung der Hilfe, die der LWB an über 2,3 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen leiste. Er betonte, dieses diakonische Erbe müsse fortgeführt werden als „unser Ausdruck von Liebe“.

Bisweilen werde allerdings gefragt, warum der LWB seinen Dienst an Flüchtlingen nicht vorrangig LutheranerInnen und anderen ChristInnen zugutekommen lasse und stattdessen allen Menschen helfe – ungeachtet ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit, ihres Geschlechts oder ihrer politischen Überzeugung. „Genau darin liegt die Stärke unserer ganzheitlichen Mission und unserer prophetischen Diakonie. Unser Ziel ist es, allen Menschen zu helfen. So hören wir auf den Ruf Christi, der zu jeder und jedem von uns in unserer Not gekommen ist.“

Als die aktuelle Krise im Irak und in Syrien ausbrach, hätte sie nicht unterschieden zwischen ChristInnen, MuslimInnen, JesidInnen, Atheisten oder Agnostikern. „Die weltweite Flüchtlingskrise ist eine humanitäre Krise.“

Interreligiöse Zusammenarbeit

Weiterhin trügen die LWB-Mitgliedskirchen, so Younan, Verantwortung dafür, den Kontakt zu anderen Religionsgemeinschaften zu suchen und bei Menschen unterschiedlicher Herkunft und Glaubensüberzeugung für ein gutes Zusammenleben, Respekt und Würde einzutreten. Er würdigte die Anstrengungen vieler Netzwerke, „die prophetisch wirken und gegen den wachsenden Strom des Extremismus schwimmen.“ Gruppen wie das königliche Komitee Jordaniens, das im Rahmen der jährlichen Weltwoche der interreligiösen Harmonie einen Preis für Friedensarbeit vergebe, leisteten einen Beitrag dazu, Gemeinschaften der Liebe aufzubauen „weit über die Grenzen des lutherischen oder christlichen Bereichs hinaus“.

Younan rief dazu auf, Führungsverantwortliche und Institutionen in der muslimischen Welt zu unterstützen, die sich durch ihr gemeinsames mäßigendes Engagement gegen den Extremismus stellen. Unter Verweis auf die Erklärung von Marrakesch zum Status religiöser Minderheiten stellte er fest: „Diese Initiativen sind so viel wirksamer als Bomben und Invasionen.“

Vorbereitung 2017

Im Blick auf die Vorbereitungen auf die Zwölfte LWB-Vollversammlung 2017 sowie die Gedenkfeiern anlässlich des 500. Reformationsjubiläums mahnte Younan zu einer Haltung, die Gottes Liebe weitergibt.

Er betonte, dass die Vorbereitungen auf die gemeinsame lutherisch-katholische Gedenkfeier, die im Oktober diesen Jahres in Lund und Malmö (Schweden) stattfindet, sowie die Veranstaltungen, die überall in der lutherischen Kirchengemeinschaft im kommenden Jahr geplant seien, keinen Anlass bieten sollen für Überheblichkeit, Konkurrenz oder Neid. „Es ist eine Gelegenheit, unsere Einheit und Liebe füreinander zu zeigen, während wir gleichzeitig die zwischen uns fortbestehenden Differenzen respektieren.“

Die Gedenkfeiern böten die Gelegenheit, „eine Zukunft zu planen für unsere Gemeinschaft der Liebe und danach zu fragen, welcher Ruf für die nächsten 50 Jahre ökumenischer Partnerschaften an uns ergeht.“

In Wittenberg, in Deutschland

„Verwurzelt in Gottes Liebe – ausgerichtet auf Gottes Zukunft“ lautet das Thema der diesjährigen Ratstagung. Younan dankte dem Deutschen Nationalkomitee des LWB für die Ausrichtung der Tagung und für die Gelegenheit, gemeinsam die Verbindung zu der Stadt zu erneuern, von der im 16. Jahrhundert „die Botschaft von der Frische des Evangeliums“ ausgegangen sei.

Aus der Geschichte Deutschlands könnte die heutige Welt verschiedene Lektionen lernen. Der Fall der Berliner Mauer 1989, der die Spaltung zwischen Ost und West beendete und einen neuen, starken Staat schuf, zeige, dass eine politische Ordnung möglich sei, die positiv mit Vielfalt umgehe. In den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg hätten die deutschen Kirchen und die deutsche Gesellschaft den Antisemitismus abgelehnt und Beziehungen geschaffen, von denen viele andere Länder gelernt hätten. Das Engagement des Landes für Flüchtlinge erwachse aus der eigenen Fluchterfahrung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. „Heute nimmt die deutsche Gesellschaft Flüchtlinge auf in dem Wissen um die Schrecken des Krieges und das Leid der Vertreibung.“