Die Freiheit eines Christenmenschen – ein Kompass für die Kirche von heute

Foto: LWB/M. Dölker

„Being Lutheran“-Webinar: Relevanz der Texte Luthers zu Freiheit und Dienst am bedürftigen Nächsten

GENF, Schweiz (LWI) – Luthers Abhandlung „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ von vor 500 Jahren könne auch als Kompass für die Kirchen von heute dienen, die aktuell versuchen, durch das schwierige Fahrwasser der COVID-19-Pandemie zu navigieren. Auch wenn der politische und gesellschaftliche Kontext im 16. Jahrhundert ein deutlich anderer gewesen ist, sei der Aufruf in dieser Schrift Luthers, Gott zu lieben und unseren Nächsten zu dienen, heute aktueller denn je.

Carmelo Santos von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika (ELKA) hat sich in einem Webinar der Reihe „Being Lutheran“ am 3. März mit der Botschaft dieses Textes beschäftigt, den Martin Luther 1520 geschrieben hat als er seine Lehre von der Rechtfertigung allein aus Gnade entwickelte. Santos ist Direktor des Büros der ELKA für Theologische Vielfalt und Ökumenisches und Interreligiöses Engagement. Jüngst hat er einen Studienleitfaden zu Luthers Text veröffentlicht, der auch verschiedene Fallstudien zur Freiheit eines Christenmenschen für Menschen in unterschiedlichen Berufen und Gesellschaftsschichten enthält.

„Die Zielsetzung dieses Studienleitfadens war keine archäologische, sondern eine theologische“, erklärte er. „Mir ging es nicht darum, in der Vergangenheit zu graben und herauszufinden, welche Worte Luther nun genau gewählt hatte, sondern vielmehr darum, seinen Text zu benutzen, um herauszufinden, was Gott uns heute sagen will.“ Es sei wichtig, im Kopf zu behalten, dass der Staat zu Luthers Zeiten „von der Kirche in Ketten gehalten wurde“ und seine Worte über das Thema Erlösung und Befreiung daher „wirklich den Kern des Dilemmas der Menschen“ trafen.

Rechte und Pflichten

Auch wenn die Machtverhältnisse zwischen Kirche und Staat heutzutage in vielen Ländern genau entgegengesetzt seien, so Santos, bringe Luthers Botschaft genau auf den Punkt, dass Christinnen und Christen „befreit sind, Gott zu lieben und – vor dem Hintergrund der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Krisen in der Welt – dem Nächsten zu dienen“. Es gehe „nicht um mich und was ich tun will, sondern darum, wie ich anderen, insbesondere den verwundbaren in meinem Umfeld, dienen kann“, erklärte er. Unter Verweis auf die Politisierung des Tragens eines Mund-Nasen-Schutzes im öffentlichen Raum als ein konkretes aktuelles Beispiel: „Es geht nicht nur um Rechte, sondern auch um meine Pflicht und meine Verantwortung, meine vulnerablen Nächsten zu schützen.“ 

Luther war überzeugt, dass der Staat zwar „eine Verantwortung und die Pflicht hat, die Verkündigung des Evangeliums zu gewährleisten, dass er aber nicht wählen dürfe, wer es verkündigt“, erläuterte Santos. In unserem heutigen Kontext müssten „das Recht auf Religions- und Bekenntnisfreiheit und das Wohlergehen aller Bürgerinnen und Bürger gegeneinander abgewogen werden“ und wenn Menschen „aufgrund bestimmter Ideologien sterben“ würden, müsse der Staat „eingreifen und die religiösen Führungspersonen für ihre Worte und Taten zur Verantwortung ziehen“.

Santos untersuchte weiterhin Luthers Erläuterungen, wie wir uns nur auf unsere persönlichen Bedürfnisse und Nöte konzentrieren können. „Alles was wir tun, tun wir für uns selbst“, fasste er zusammen; und das umfasse auch wohltätiges Spenden, das „unser Ego streichelt“, obwohl wir wissen, dass „gute Taten allein nicht ausreichen, wenn sie nicht aus dem Glauben heraus geschehen“. Durch Gottes Gnade sind wir befreit, „aufrecht in die Welt zu blicken, um unsere Nächsten als das zu sehen, was sie sind, und ihnen entsprechend ihrer Bedürfnisse dienen zu können“.

Ethische Bedeutung

Wenn wir mit fundamentalem Diskurs und Manipulierungen der christlichen Botschaft konfrontiert sind, so Santos, sei es wichtig, dass „wir die Evangelien lesen und Jesus die Möglichkeit geben, zu uns zu sprechen“. Macht, Privileg und „die Hegemonie der Kolonialisierung“ hätten falsche Normen geschaffen, an denen wir uns messen, warnte er. Genau wie Luther die Bibel übersetzt hätte, damit die Menschen seiner Zeit die Botschaft des Evangeliums in ihrer eigenen Sprache hören und damit verstehen könnten, sagte Santos, seien wir befreit, „im Wort zu verweilen“ und „zu hören, wie Gott durch die Bedürfnisse unserer Nächsten direkt zu uns spricht“.

Chad Rimmer, der das Webinar moderierte, sprach über die ethische Bedeutung der Abhandlung Luthers in unserer Zeit und wies darauf hin, dass das Konzept der Religions- und Glaubensfreiheit heutzutage oftmals von Menschen missbraucht würde, die gesellschaftliche oder religiöse Systeme voranbringen wollen, die andere Menschen oder Bevölkerungsgruppen ausschließen oder unterdrücken. Rimmer sagte: „Luthers Abhandlung zeigt sehr deutlich, dass die Freiheit eines Christenmenschen genau das Gegenteil ist. Wir müssen uns von diesen negativen Vorstellungen von Freiheit loslösen und von Liebe geprägtes Handeln hervorheben.“ 

Weiterhin betonte Rimmer die Wirkungen des individuellen Glaubens im öffentlichen Raum. „Ich bin nicht befreit, um allein und für mich zu sein, sondern ich bin befreit für Beziehungen mit anderen Menschen, in denen es letztlich immer um Gemeinschaft geht – das Fundament aller lutherischen Ethik“, erklärte er.

Das nächste Webinar in der Reihe wird am 5. Mai stattfinden und sich mit dem Thema Macht beschäftigen. Die Webinar-Reihe wird von der LWB-Abteilung für Theologie, Mission und Gerechtigkeit organisiert.

Von LWB/P. Hitchen. Deutsche Übersetzung: Andrea Hellfritz, Redaktion: LWB/A.Weyermüller