Chance auf Veränderung

Alis Familie unterstützt sie beim Schulbesuch. Foto: LWB/C. Kästner

Südsudan: Flüchtling in LWB-Bildungsprogramm ist Prüfungsbeste

Bunj (Südsudan)/Genf, 14. Juni 2016 (LWI) – „Es kommt auf deinen Einsatz an“, findet Tawheda Badradin Ali (17). Sie lächelt. „Ich bleibe einfach konsequent dran.“ Inzwischen erntet sie die Früchte ihres Durchhaltevermögens. Das Flüchtlingsmädchen aus dem sudanesischen Bundesstaat An-Nil al-azraq (Blauer Nil) hat bei den Abschlussprüfungen der Primarschulen das beste Ergebnis im ganzen Bundesstaat Upper Nile (Südsudan) erzielt.

Beschleunigtes Bildungsprogramm

Ali hat an dem beschleunigten Bildungsprogramm teilgenommen, das der Lutherische Weltbund für junge Flüchtlinge anbietet. Der Lehrplan des Programms ist abgestimmt auf Kinder und Jugendliche, deren Schulbesuch unterbrochen war. Alis Familie musste vor dem Krieg in ihrer sudanesischen Heimat fliehen. Mit 12 Jahren hatte das Mädchen bereits Aufenthalte in Flüchtlingslagern in Äthiopien und einem weiteren Bezirk des Südsudan hinter sich, schliesslich wurde die Familie in Gendrassa angesiedelt. Mittlerweile hatte das Mädchen monatelang den Unterricht versäumt. Im Südsudan wird auf Englisch unterrichtet, nicht auf Arabisch, wie in ihrer Heimatstadt, daher musste sie zusätzlich einen Teil der bereits absolvierten Primarschuljahre wiederholen.

Das beschleunigte Bildungsprogramm vermittelt die Inhalte von zwei Primarschuljahrgängen in einem Jahr. Ältere SchülerInnen haben so die Möglichkeit, gemeinsam mit Gleichaltrigen das Verpasste bis zu der für ihr Alter passenden Stufe nachzuholen. Ali ist eines von nur wenigen Mädchen in ihrer Klasse. Viele Mädchen brechen die Schule ab, um zu heiraten. Andere haben zu Hause so viel Arbeit, dass sie keine Zeit finden, ihre Hausaufgaben zu machen und den Stoff zu lernen.

 

„In vielen Familien sieht man die Mädchen nur als Einkommensquelle. Ihr Wert bemisst sich an der Mitgift, die ein Bewerber zahlt, wenn er sie heiratet.“ – Sudanesischer Flüchtling und Mutter von Tawheda Badradin Ali, Absolventin des beschleunigten Bildungsprogramms und Prüfungsbeste.

 

„Mir ist wichtig, dass sie lernt“, sagt Alis Mutter. „Meine Schwestern können mir bei den schweren Arbeiten helfen. Sie macht die leichteren Sachen, kocht, wäscht und kehrt den Hof.“ Alis Mutter arbeitet selbst als Primarschullehrerin, hat vom LWB eine Ausbildung erhalten. Das Lebensumfeld der Familie ist deutlich anders organisiert als bei vielen Flüchtlingen im Lager: Der Hof ist tadellos sauber, Küchenausstattung und andere Geräte sind aufgeräumt. Die aus Lehm und Stroh gebauten Wände der Wohnräume zieren Wandbehänge und sogar eine Uhr. An den Fenstern hängen Gardinen.

In Alis Zimmer findet man einen Stapel Bücher. Das Mädchen hat sich die Fingernägel lackiert und bindet ihr Kopftuch anders als die anderen Frauen im Lager. „Ich möchte Ingenieurin werden“, erzählt sie. „Davon träume ich schon seit meiner Kindheit. Mich interessieren Architektur und Bauwesen.“

Im Wohnzimmer der Familie hängt ein Bild. Es zeigt eine weinende weisse Taube, umgeben von aus der Zeitung ausgeschnittenen Bildern von Models. Ali hat es im Unterricht gemacht. „Die Taube steht für den Frieden“, erläutert sie. „Die ganzen Fotos sollen symbolisieren, wie das Leben sein wird, wenn Frieden ist.“ Der Traum eines jungen Mädchens von Schönheit und einem unbeschwerten Leben, weit weg vom Flüchtlingslager Gendrassa.

Schule oder Ehe

„In vielen Familien sieht man die Mädchen nur als Einkommensquelle“, stellt Alis Mutter fest. „Ihr Wert bemisst sich an der Mitgift, die ein Bewerber zahlt, wenn er sie heiratet.“

Alis Familie will sie und ihre Schwestern nicht verkaufen. Der Vater der Mädchen ist im Sudan geblieben, um weiter zum Unterhalt der Familie beizutragen. „Es ist schwierig, sich hier im Lager eine Existenz zu schaffen, Ackerbau ist nicht möglich“, erklärt Alis Mutter. „Also macht er daheim mit der Landwirtschaft weiter. Das ist gefährlich, aber so ist das Leben.“ Er komme die Familie regelmässig besuchen. „Er arbeitet sehr hart für uns.“

Ali steht nun vor der bisher grössten Herausforderung. In Gendrassa gibt es keine Sekundarschule. Ab jetzt muss sie zum Unterricht eine Stunde bis ins Nachbarlager laufen. Jeden Morgen steht sie um fünf Uhr auf. Ihre Mutter macht sich Sorgen, dass ihr etwas passiert oder dass der weite Weg zu anstrengend ist und ihre ehrgeizige, kluge Tochter die Schule abbrechen muss.

„Mein Traum ist, dass sie die Schule abschliesst“, bekräftigt sie. „Ich möchte, dass sie unser Gemeinwesen verändert.“