BLOG: Über sieben Jahrzehnte und fünf Kontinente

Foto: LWB/C. Kästner

Eine Woche lang war der LWB-Weltdienst zu Gast im Himmelszelt auf der Weltausstellung in Wittenberg. Unter dem Motto: „Hier stehe ich… an der Seite von Flüchtlingen“ luden sie Besucher ein, sich über die Arbeit des Weltdienstes zu informieren, und für fünf Minuten sprichtwörtlich in die Schuhe eines Flüchtlings zu schlüpfen: Wir haben unseren Besuchern eine Auswahl an Dingen hingelegt und sie gebeten, das auszuwählen, was sie auf eine Flucht mitnehmen würden – innerhalb von fünf Minuten.

Mit diesem kleinen Workshop haben wir ein Gespräch angefangen darüber, was wir zum überleben brauchen, was nötig ist um sich sicher und daheim zu fühlen, in gewisser Weise auch, was uns als Menschen ausmacht. Wir haben diskutiert, welche Hilfe eine humanitäre Organisation wie der Weltdienst geben kann, und was woanders her kommen muss, von den gastgebenden Ländern und Kommunen. Den Workshop haben wir ergänzt mit einer Zusammenstellung von Zitaten und Bildern aus unserer Arbeit, die zeigen was Flüchtlinge mitgenommen haben, was sie zurücklassen mussten, und was sie am meisten vermissen.

Foto: LWB/C. Kästner

Als wir diese Ausstellung geplant haben war auch mir als Deutscher nicht bewusst, was für eine Signalwirkung das Wort „Flüchtlinge“ inzwischen in Mitteldeutschland hat. Die europäische Flüchtlingskrise 2015 ist hier sehr präsent. Auch Wittenberg hat Flüchtlinge aufgenommen, es gibt hier in der Nähe ein Aufnahmezentrum. Plötzlich sind Menschen von anderen Kontinenten Teil des Stadtbilds, in einer Region, die in den letzten Jahrzehnten wenig mit Ausländern zu tun hatte. Es gab einige, die das Thema ganz klar nicht mehr hören konnten oder wollten, aber auch viele ermutigende Geschichten von Menschen, die sich selbst für Flüchtlinge einsetzen, Familien bei Behördengängen begleiten, den Neuankömmlingen ihre Ohren und Herzen geöffnet haben.

In unseren Gesprächen hat sich aber auch immer wieder gezeigt, wie diese aktuelle Flüchtlingskrise eigene oder tradierte Erinnerungen an die Vertreibungen nach dem zweiten Weltkrieg wachgerufen hat. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Vertreibungen aus Schlesien und Pommern nach dem Krieg jemals so ein Thema waren. Die meisten Menschen, die damals das angestammte Land ihrer Familien verlassen mussten, leben heute nicht mehr, und es sind ihre Töchter und Söhne, die sich jetzt an die Geschichten erinnern. Andere haben die Flucht als kleine Kinder erlebt, und erzählen jetzt, dass sie dieser Heimatverlust bis heute prägt.

Bei manchen unserer Besucher haben die Fotos von überfüllten Erstaufnahmezentren und Sammelunterkünften im Nordirak auch Erinnerungen an die Flucht von Ost nach West hervorgerufen. Ein Mann erzählte von einer abenteuerlichen Flucht über die deutsch-deutsche Grenze mit seinen Eltern. Er schien immer noch wütend, dass er als Kind damals nicht gefragt wurde, ob er seine Heimat verlassen will.

Foto: LWB/C. Kästner

Es ist frappierend, wie sehr diese Geschichten von vor siebzig Jahren den Berichten ähneln, die wir heute von Flüchtlingen und Vertriebenen in Uganda und anderswo hören. In beiden Fällen sind es hauptsächlich Mütter mit kleinen Kindern, die sich auf den gefährlichen Weg machen und manchmal sogar auf der Flucht, unter unaussprechlichen Bedingungen, Kinder gebären. Damals wie heute geben Frauen und Kinder den grossen Fluchtbewegungen ein Gesicht. Plötzlich sind Afrika und der Irak ganz nah, und siebzig Jahre gar nicht so lange her.

Was würdest du mitnehmen auf die Flucht? Die meisten wählen zuerst den Reisepass, das Mobiltelefon, oder in der Sommerhitze, die Wasserflasche aus unserer Auswahl. Sie sagen, dass sie ihre Freunde oder Familien am meisten vermissen würden. Letztendlich hängt die Fähigkeit, irgendwo neu anzukommen, massgeblich davon ab, ob man willkommen geheissen wird, ob andere bereit sind, einen an- und aufzunehmen.

Wir haben unsere Besucher gebeten, ein Gebet oder einen Wunsch für einen Flüchtling zu hinterlassen. Auf einer dieser Karten steht: „Ich bete für alle Menschen, dass sie niemals gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen.“

Cornelia Kästner ist die LWB-Journalistin für den Weltdienst